Foto: Roberto Bulgrin/bulgrin - Roberto Bulgrin/bulgrin

Endlich wohnt Antonio Jose Gonçalves da Cruz nicht mehr bei Mama, sondern in einer WG für Menschen mit Behinderung in Esslingen. Für sie ist die Wohnraumnot besonders drastisch.

EsslingenFür Antonio Jose Gonçalves da Cruz geht es jeden morgen um 5.50 Uhr los zur Arbeit, er verlässt das Haus, geht zum Bus und fährt zur Arbeit in Nellingen. Am Nachmittag oder Abend stehen Freizeitaktivitäten wie Gitarrenunterricht oder der Kinobesuch mit Freunden an. Und wenn der 35-Jährige nach Hause in seine WG in Wäldenbronn kommt, schaut er in den Kühlschrank – und ärgert sich über seine Mitbewohnerin, die sich „an meinen Lebensmitteln vergreift“. Klingt nach dem ganz normalen Stress, den viele aus ihrer Studenten-WG kennen. Auch, dass die Mieten hoch sind – 500 Euro für das Zimmer – und die Suche lange dauert, können die meisten nachempfinden. Dennoch war der Weg in die eigenen vier Wände für Gonçalves da Cruz besonders steinig – er dauerte Jahre.

Antonio Jose Gonçalves da Cruz leidet an Epilepsie und kann aufgrund einer geistigen Beeinträchtigung nicht lesen und schreiben. Bis zu seinem Einzug in die WG Ende Juli hat er bei seiner Mutter in Denkendorf gelebt. Den Wunsch, auszuziehen, hatte er schon lange. Doch schlechte Erfahrungen bei einigen Testversuchen in stationären Einrichtungen ließen ihn zweifeln. „Ich durfte nicht ausgehen, wann ich wollte, oder meine Familie besuchen“, erzählt der 35-Jährige. Doch vor wenigen Monaten tat sich endlich eine Gelegenheit auf: Die Diakonie Stetten hatte ein Haus angemietet und stellt es nun vier Menschen mit Behinderung zur Verfügung, die mehrmals pro Woche von Betreuern besucht werden.

„Das war ein Traum für uns“, erzählt Alena Hils von der Diakonie Stetten. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Oliver Günther koordiniert Hils seit einigen Monaten den Aufbau ambulanter Wohnangebote. Ihre Arbeit wird von der Aktion Mensch fünf Jahre lang gefördert – und war nach Ansicht von Günther und Hils dringend nötig, weil bislang der Diakonie und ihren Mitarbeitern schlicht die nötigen Ressourcen fehlten zur Wohnungssuche und zum Netzwerken. „Ohne Zeit geht es gar nicht“, erklärt Hils. Seit Beginn ihrer Arbeit hätten sie auf mehr als 100 Annoncen reagiert. Nur zwei Mal seien sie zur Besichtigung eingeladen worden, nur einmal hätten sie Glück gehabt. Die Diakonie Stetten betreut in Esslingen 15 Menschen im ambulanten Wohnen – die meisten in einer Wohnung von Verwandten oder der Diakonie Stetten. Auf dem freien Wohnungsmarkt sei es schwer, etwas zu finden. Wegen der Berührungsängste bei Vermietern. Dabei fungiere die Diakonie als Zwischenmieter und gebe Sicherheit, erklärt Oliver Günther. Die Miete kommt vom Landkreis Esslingen im Rahmen der Eingliederungshilfe. „Wir wünschen uns mehr Offenheit bei den Vermietern“, erklärt Hils. Als Einschränkung hinzukomme, dass die Mietobergrenze bei 510 Euro pro Person liege und eine gute Anbindung an den ÖPNV gewährleistet sein muss.

Die Bedarfe von Menschen mit Behinderung fehlten in vielen Köpfen, sagt Hils: der Verantwortlichen in den Rathäusern bei der Planung von Neubaugebieten etwa. In der Esslinger neuen Weststadt könnten sich Sozialträger keinen Wohnraum leisten, beklagen Hils und Günther. Im Kreis Esslingen lebten Ende 2018 laut Sozialbericht des Landratsamtes 182 Menschen im ambulant betreuten Wohnen und 454 in stationären Einrichtungen. Doch das Leben im Wohnheim sei für die fitten Klienten nicht mehr zeitgemäß, sagen Hils und Günther, auch der Landkreis bevorzuge das ambulante vor dem stationären Wohnen im Sinne der Inklusion.

Die meisten, die aus dem überbehüteten Rahmen der Familie oder des Wohnheims ins ambulante Wohnen zögen, kosten ihre Freiheit aus, erzählt Oliver Günther mit einem Schmunzeln. Auch Antonio Jose Gonçalves da Cruz hat überzeugt, dass er einen eigenen Schlüssel hat und kommen und gehen kann, wann er mag. „Ich kann mir vorstellen, hier weiter zu wohnen“, sagt er.