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Um dem Grauen an der Front zu entkommen, schoss sich der aus Berkheim stammende Soldat August Muff in den linken Unterarm. Er musste zwar vors Militärgericht, kam aber mit einem milden Urteil davon.

Esslingen Um dem Grauen an der Front zu entkommen, entschied sich der aus Berkheim stammende Soldat August Muff zu einem drastischen Schritt. Er schoss sich in den linken Unterarm. Die Militärverwaltung leitete ein Verfahren gegen ihn ein und der Berkheimer wurde „wegen Selbstverstümmelung verurteilt“, berichtet Wolfgang Mährle. Der promovierte Historiker, der im Hauptstaatsarchiv Stuttgart arbeitet, ist Spezialist für Themen rund um den Ersten Weltkrieg und hat die Akte Muff, die in diesem Monat im Rahmen des Langzeitprojekts „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ im Stadtmuseum gezeigt wird, studiert.

Es war die Nacht vom 21. auf den 22. April 1918, als sich August Muff, der bei Villers-Bretonneux 400 Meter vom Feind als MG-Posten auf Feldwache in einem Granattrichter lag, mit seiner Pistole in den linken Unterarm schoss. Seine Verwundung erregte bei Kameraden und Vorgesetzten Argwohn. Denn August Muff, der am 11. August 1898 im damals noch selbstständigen Berkheim als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren worden war, wollte sich den Ärmel seines Waffenrocks nicht aufschneiden lassen. Zudem roch seine Uniform nach Pulver. Überhastet machte er sich auf den Weg zum Verbandsplatz. Seine Pistole fand sich später in dem Granattrichter. Sie ragte halb aus dem Futteral. Ihre Kammer war zurückgezogen und blutverschmiert. In der Kammer war keine Patrone mehr. „Auf diese seltsamen Umstände angesprochen, verwickelte sich Muff bei Befragungen immer wieder in Widersprüche“, weiß Mährle.

Richter urteilen milde

Vom Verbandsplatz wurde Muff, den das Militär am 4. Januar 1917 eingezogen hatte, in ein Vereinslazarett des Roten Kreuzes und dann ins Bezirkskrankenhaus nach Ludwigsburg gebracht. Am 28. April schied er aus seiner Kompanie aus. Gut drei Wochen nach der Verwundung wurde er als kriegsverwendungsfähig zur 5. Ersatz-Maschinengewehrkompanie nach Isny entlassen. Noch während Muff gesund gepflegt wurde, leitete die Militärverwaltung ein Verfahren ein. Ein Haftbefehl erging am 25. Juni 1918. Bis zum Beginn des Prozesses im September wurden noch ärztliche Gutachten eingeholt.

„Im Unterschied zur Bundesrepublik kannte das Deutsche Reich eine spezielle Militärgerichtsbarkeit“, erläutert Mährle. Ausgeübt wurde sie im Reich durch Truppenkommandeure, die als sogenannte Gerichtsherren fungierten, sowie durch Kriegsgerichte. Die Kriegsgerichte setzten sich aus Offizieren und Kriegsgerichtsräten zusammen. Letztere waren Juristen mit der Befähigung zum Richteramt. Die Arbeit der Kriegsgerichte war laut Strafgerichtsordnung „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“. In der Realität wurde die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren jedoch durch die großen Machtbefugnisse der Gerichtsherren eingeschränkt. Das Verfahren gegen August Muff führte als Gerichtsherr Generalmajor Wilhelm Freiherr von Brand, Kommandeur der Stellvertretenden 54. Infanterie-Brigade.

In der Verhandlung vom 4. September 1918 hatte das Kriegsgericht der Stellvertretenden 54. Infanterie-Brigade „kein Bedenken, die Darstellung des Angeklagten als unglaubhaft zu verwerfen“. Dennoch fiel das Urteil gegen Muff „mit einem Jahr Haft denkbar milde aus“. Laut Militärstrafgesetzbuch konnte Selbstverstümmelung „mit Gefängniß von einem Jahre bis zu fünf Jahren bestraft“ werden, weiß Mährle. Im Fall eines Wachvergehens vor dem Feind, dessen sich Muff ebenfalls schuldig gemacht hatte, drohte in schweren Fällen lebenslange Haft, schlimmstenfalls sogar die Todesstrafe.

„Die Prozessakte zeigt, dass die Militärrichter das geltende Recht im Fall August Muffs, wo immer das möglich war, zugunsten des Angeklagten auslegten“, erklärt der Historiker. So stellte das Gericht zunächst fest, dass Muff keine vollendete Selbstverstümmelung im Sinne des Militärstrafgesetzbuches begangen habe. Denn der Soldat sei gut drei Wochen nach der Tat schon wieder diensttauglich gewesen. Zudem sah das Gericht keinen Nachteil für die Truppe, da beim Wachdienst im Feld keine nennenswerte Unterbrechung eingetreten sei und das Fehlen eines Mannes keine Auswirkung auf die militärische Situation gehabt habe. Weil die Truppe keinen Nachteil hatte, spielte für das Gericht auch keine Rolle, dass die Pflichtverletzung Muffs vor dem Feind begangen worden war. Für den Angeklagten sprach in den Augen der Richter seine Jugend. „Abgesehen vom letzten Punkt hätte man all dies auch anders sehen können“, resümiert Wolfgang Mährle. Ganz auf der Linie des Militärgerichts agierte anschließend der Gerichtsherr Generalmajor Wilhelm Freiherr von Brand. Er bestätigte den Urteilsspruch und setzte ihn „aus dienstlichen Gründen“ außer Vollzug. Muff wurde an die Front zurückgeschickt.

August Muffs Verzweiflungstat fiel in eine Zeit, in der sich im deutschen Heer zunehmend Auflösungserscheinungen zeigten. Vor allem Truppentransporte wurden zur Desertion genutzt. Das Problem verschärfte sich im April 1918, als das Scheitern der Michael-Offensive offensichtlich wurde. Die Enttäuschung darüber, dass der Krieg trotz aller Opfer nicht für Deutschland und seine Verbündeten hatte entschieden werden können, sowie eklatante Nachschubmängel und Lebensmittelengpässe im deutschen Heer führten zu einem dramatischen Anstieg der Zahl sogenannter „Drückeberger“. Für die letzten Kriegsmonate wird ihre Zahl auf 750 000 bis eine Million geschätzt. Der Militärhistoriker Wilhelm Deist hat sich intensiv mit dem Phänomen der „Drückebergerei“ beschäftigt und sprach davon, dass 1918 im deutschen Heer ein „verdeckter Militärstreik“ eingesetzt habe. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs sei maßgeblich auf die Desintegration der Armee aufgrund der zunehmend aussichtslosen militärischen Lage zurückzuführen.

Beispiel für Verlust der Kampfkraft

August Muffs Schuss in den eigenen Unterarm mag Wolfgang Mährle aber nicht als „verdeckten Militärstreik“ werten: „Hier handelte ein junger Mensch ganz einfach aus Angst und situativ. Vielleicht hätte er sich nicht anders verhalten, wenn er zwei Jahre früher bei Verdun oder an der Somme gekämpft hätte.“ Muff könne exemplarisch für den Verlust an Kampfkraft stehen, den die deutsche Armee im Jahr 1918 erlitt. Erfahrene Soldaten, die während der Frühjahrsoffensive in großer Zahl fielen oder verwundet wurden, konnten nicht mehr adäquat ersetzt werden. Seine Reststrafe musste der Berkheimer Soldat nach Kriegsende nicht verbüßen. Er profitierte von einer Amnestie für Delikte der Dienstentziehung im November 1918. Über Muffs weiteres Leben weiß man nicht viel. Im September 1921 fiel er – nach Berkheim zurückgekehrt und als „Hilfsarbeiter“ bezeichnet – wegen Ruhestörung auf und erhielt eine Strafe von 20 Mark. Ein Jahr später heiratete er eine aus Albershausen stammende Frau, die wie er selbst aus einer Fabrikarbeiterfamilie stammte. Das Paar bekam einen Sohn und eine Tochter, die 1923 und 1924 geboren wurden. August Muff starb am 24. September 1929 im Alter von nur 31 Jahren.

Die Eßlinger Zeitung begleitet Stadtarchiv und Stadtmuseum bei der Präsentation von 52 „Objekten des Monats“. Sie werden als Teil des historisch-kulturellen Langzeitprojekts „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ im Gelben Haus am Hafenmarkt präsentiert.

Wolfgang Mährle referiert am Dienstag, 8. Mai, ab 18 Uhr im Gelben Haus unter der Überschrift „Anklage Selbstverstümmelung“ über die Kriegsgerichtsakte des Soldaten August Muff. Der Eintritt ist frei.