Julie Hoffmann blickt dankbar auf ihr Berufsleben zurück – obwohl sie oft mit schwierigen Situationen zu tun hatte. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Julie Hoffmann ist seit 1990 in der Flüchtlingsbetreuung der Awo im Kreis Esslingen tätig und hat dabei mehrere Zuwanderungswellen miterlebt. Nun geht sie in den Ruhestand.

EsslingenDie Geschichte vom roten Telefon beschreibt vielleicht am besten, wie Julie Hoffmann ihren Beruf verstanden hat. Das rote Telefon, so wird erzählt, prangte in Zeiten vor Handy und Smartphone auf dem Schreibtisch, den die Sozialdienstleiterin der Arbeiterwohlfahrt (Awo) für die Arbeit nach Feierabend in ihr Wohnzimmer verlegt hatte. Dort konnte man sie immer anrufen. „Ich habe es immer als meine Aufgabe angesehen, erreichbar zu sein, falls etwas Katastrophales passiert“, sagt Hoffmann. Doch das wird sich jetzt ändern: Heute wird die 65-Jährige offiziell in den Ruhestand verabschiedet.

Damit endet ein Kapitel, das Julie Hoffmann bis zuletzt als sehr erfüllend erlebt hat – trotz aller Widrigkeiten: „Das Schönste war immer, wenn wir im guten Kontakt mit den Flüchtlingen waren und gemerkt haben, dass es sinnvoll ist, was wir tun“, sagt die scheidende Sozialdienstleiterin. Seit 1990 ist Hoffmann in der Flüchtlingsbetreuung der Awo tätig – und hat dabei mehrere Zuwanderungswellen miterlebt. Die heftigste kam am Ende ihres Arbeitslebens: „So etwas wie 2015 und 2016 hatten wir noch nie erlebt. Da hieß es nur noch: Augen zu und durch“, sagt Hoffmann. Zeitweise seien 300 neue Flüchtlinge pro Woche angekommen, da sei es nur noch darum gegangen, sie irgendwo unterzubringen und die Grundversorgung sicher zu stellen, alles andere musste warten. Drei Monate lang übernahm Hoffmann sogar die Betreuung der Turnhalle der Käthe-Kollwitz-Schule in Esslingen, die zur Sammelunterkunft umfunktioniert worden war, weil es sonst niemanden gab, der das machen wollte.

Doch es war nie das enorme Arbeitspensum, was Julie Hoffmann als die größte Herausforderung empfand: „Das Schwierigste waren immer die gesetzlichen Rahmenbedingungen“, sagt sie. Der Frust darüber, dass sie lange keine getrennten Flüchtlingsunterkünfte für Familien und alleinstehende Männer durchsetzen konnte, obwohl das Leben in den Gemeinschaftsunterkünften laut Hoffmann für die Flüchtlingsfrauen oft ein Spießrutenlauf ist. Oder die Enttäuschung darüber, dass Menschen legal abgeschoben werden, denen in der Heimat Furchtbares droht: Das war es, was die 65-Jährige besonders schlauchte.

Dabei ist sie sicher nicht zartbesaitet. Zum Glück. Denn in den 28 Jahren, die sie sich der Flüchtlingsbetreuung widmete, bekam sie viel Schreckliches mit: Geschichten von Frauen und Männern, die über Tage hinweg vergewaltigt worden waren, die auf der Flucht in die Hände krimineller Banden gefallen waren, die gefoltert und misshandelt worden oder deren Kinder neben ihnen im Mittelmeer ertrunken waren. Hoffmann erzählt von einer Frau, die spontan in Ohnmacht fiel, sobald sie von ihrer Flucht berichten sollte, weil sie die Erinnerung daran nicht ertrug. Und sie berichtet von Flüchtlingen, die sich ein Zelt kauften, als sie erfuhren, dass sie abgeschoben werden sollten – weil sie bei der Vorstellung, in ihre alte Nachbarschaft zurückkehren zu müssen, Todesangst bekamen.

Wie hält man so etwas aus? „Mein Rezept war immer mitzufühlen, ohne mitzuleiden“, sagt Hoffmann. Denn wer mitleide, sei nicht mehr handlungsfähig. Nur in zwei Fällen in ihrem Berufsleben habe sie zeitweise komplett die Distanz verloren. Beide Male sei sie mit dem Tode bedroht worden – und habe die Drohungen ernst genommen. Ansonsten hätten vor allem Supervision und der gute Zusammenhalt im Team geholfen, um die oftmals schwierigen Situationen meistern und die Schicksale ertragen zu können.

Für ihr Team hätte Hoffmann ohnehin fast alles gemacht. So war sie fast bis zuletzt auch als Leiterin des Sozialdienstes stets noch in der Betreuung der Flüchtlinge aktiv: „Die Leitung wird ja finanziert aus der Arbeit der anderen. Mir hat es widerstrebt, die anderen für mich malochen zu lassen “, sagt sie. Selbst in ihrem seltenen Urlaub habe sie meist an einem Tag in der Woche gearbeitet, damit die Kollegen nicht all ihre Aufgaben übernehmen mussten. Und als nach der großen Zuwanderungswelle vom Balkan und aus der Türkei in den 90ern dann Anfang der 2000er-Jahre kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland kamen, reduzierte sie ihre Stelle zeitweise auf 35 Prozent, um niemanden entlassen zu müssen.

Trotz aller Schwierigkeiten blickt Julie Hoffmann dankbar zurück auf ihr Berufsleben. „Ich hatte immer das Gefühl, wie durch ein Schlüsselloch in die weite Welt zu schauen.“ Und sie habe bis zuletzt immer etwas dazu gelernt – auch wenn sich manche Dinge öfter wiederholt hätten. Etwa die Frage der Unterbringung: „Das kam immer in Wellen“, sagt Hoffmann – mal sei man angehalten gewesen, die Geflüchteten dezentral unterzubringen, dann wieder seien Sammelunterkünfte angesagt gewesen. Aber mit der Zeit habe sie viele wertvolle Erfahrungen gesammelt und der Sozialdienst habe viel Pionierdienst bei der Flüchtlingsbetreuung gesammelt. Ein Engagement als Ehrenamtliche in diesem Bereich im Ruhestand kann sich Julie Hoffmann allerdings nicht vorstellen: „Mein Soll ist erfüllt“, sagt die scheidende Sozialdienstleiterin.