Hoch über den Dächern der Stadt erwies Gerhard Polacek (rechts) dem Mond die lyrische Ehre - das Grammofon sorgte für den guten Ton. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Er ist 384 400 Kilometer von der Erde entfernt und braucht 27 Tage, um unseren Planeten zu umrunden. Dieser prosaischen Sicht auf den Mond haben Wortkünstler aller Epochen ihre lyrische Perspektive gegenübergestellt. Einige der schönsten Gedichte über den Mond hatte der Schauspieler Gerhard Polacek für die jüngste Veranstaltung der Reihe „Erlesene Orte“ ausgewählt. Und wie immer hatten Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung, die dieses außergewöhnliche Veranstaltungsformat gemeinsam pflegen, einen besonderen Schauplatz ausgewählt: die Dachterrasse der Esslinger Volksbank. Nur wenige wissen, welch lauschiges Plätzchen die Bank in luftiger Höh’ besitzt. Und viele wollten die seltene Gelegenheit nutzen, von dort oben den Blick über die Stadt schweifen zu lassen. Dass Polacek und seine Gäste ob des wenig anheimelnden Wetters nach einem kurzen Prolog unter freiem Himmel nach drinnen umziehen mussten, konnte den literarisch-sinnlichen Genuss nicht trüben. Denn der Veranstaltungssaal der Volksbank bietet einen großartigen Panoramablick über die ganze Stadt. Von dort aus zu beobachten, wie sich die Nacht über Esslingen senkt, war ein besonderes Erlebnis.

Man braucht nicht lange nachzudenken, um Mondgedichte im Schatzkästlein der eigenen Erinnerungen zu entdecken: Matthias Claudius‘ „Abendlied“, Rainer Maria Rilkes „Märchen von der Wolke“ oder Joseph von Eichendorffs „Mondnacht“ kennen und lieben viele, und sie durften auch in Gerhard Polaceks Repertoire für diesen Abend nicht fehlen. Der Esslinger Schauspieler hatte im Fundus der Mondgedichte gegraben und dabei auch allerlei zu Tage gefördert, was nicht jedem sofort präsent ist - so wie François Villons „Kleine Ballade vom Mäuslein, das in Villons Zelle Junge bekam“.

Gerhard Polacek bewies einmal mehr seinen Sinn für eine kluge Dramaturgie. Besinnliches und Heiteres, Vertrautes und weniger Bekanntes, Tiefgründiges und Unbeschwertes wechselten sich ab und brachten ganz verschiedene Saiten des eigenen Empfindens zum Klingen. Mal wurde herzhaft gelacht, dann war’s wieder mucksmäuschenstill, weil jeder spürte, dass Poesie ihren ganzen Zauber erst in den feinen Nuancen entfaltet. Dazu passte perfekt, dass Polacek den lyrischen Charakter des Abends nicht allzu verbindlich nahm, sondern auch Texte wie das Grimmsche Märchen „Der Mond“ oder die Himmelsgedanken aus Raul Schrotts „Erste Erde - Epos“ rezitierte. Und selbst das gute, alte Grammofon kam wieder zu Ehren und ließ längst vergessene Sänger wie Sven Olof Sandberg und Wilhelm Strienz in Schlager-Poesie schwelgen: „... und wieder geht ein schöner Tag zu Ende.“ Da schickte mancher einen sehnsuchtsvollen Blick gen Himmel.

Es gehört zum Konzept der „Erlesenen Orte“, dass jeder Abend trotz großen Publikumszuspruchs einmalig bleibt. Und so hatte auch die Lesung bei der Volksbank ihren ganz speziellen Charme. Nur einer ließ sich am wolkenverhangenen Himmel nicht blicken: der Mond. Doch der war dank all der vielen Dichter und Autoren, die ihn über die Jahrhunderte hinweg auf unterschiedlichste Weise besungen haben, bei der für dieses Jahr letzten Veranstaltung der Reihe „Erlesene Orte“ ohnehin allgegenwärtig.