Eigentlich sollten Kinder in der Schule alle gleich sein, doch die sozialen Unterschiede bereiten oft Probleme. Foto: dpa - dpa

Kinderarmut ist auch im vergleichsweise reichen Landkreis Esslingen in vielen Familien ein Thema. Olivia Longin von der Kinderstiftung Esslingen-Nürtingen und der langjährige Schulrektor Klaus Hummel berichten von ihren Erfahrungen.

EsslingenJedes fünfte Kind gilt hierzulande als armutsgefährdet. Jeder kann das wissen, trotzdem wird viel zu selten darüber gesprochen. Um die Sorgen und Nöte vieler Kinder in den Fokus zu rücken, laden die Caritas Esslingen und ihre Kinderstiftung in Zusammenarbeit mit der Liga der freien Wohlfahrtspflege im Landkreis zu einem Gesprächsabend ein. „Kinderarmut in einem reichen Landkreis“ heißt das Thema am Mittwoch, 27. März, von 19 bis 21 Uhr im Forum Esslingen (Schelztorstraße 38). Der langjährige Esslinger Schulrektor Klaus Hummel und Olivia Longin, die Geschäftsführerin der Caritas-Kinderstiftung, erläutern im Gespräch mit unserer Zeitung, wie sich Kinderarmut im Alltag äußert und weshalb es so wichtig ist, Jungs und Mädchen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Beim Thema Kinderarmut denkt man nicht unbedingt an ein so reiches Bundesland wie unseres. Ist das in Baden-Württemberg ein verbreitetes Problem?
Longin: Insgesamt sind in unserem Bundesland rund 1,6 Millionen Menschen von Armut betroffen und verfügen über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Die Betroffenen haben keine ausreichenden materiellen, sozialen und kulturellen Mittel, die dem allgemeinen Lebensstandard entsprechen. Das hohe Einkommens-, Preis- und Mietniveau im Südwesten stellt arme Menschen im Südwesten vor besondere Herausforderungen. Armut trifft Menschen in einem reichen Land besonders hart.

Was heißt das im Alltag ganz konkret?
Longin: Kinder aus armen Familien haben wesentlich schlechtere Chancen. Das gilt für Bildung und Ausbildung ebenso wie für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Eigentlich ist eine Einladung zum Kindergeburtstag etwas Schönes. Trotzdem sind Eltern, denen es am nötigen Geld fehlt, froh, wenn ihr Kind gar nicht erst eingeladen wird, weil sie dann kein Geschenk kaufen müssen, das ihr knappes Budget belastet. Und die Kinder selbst haben ein schlechtes Gefühl, weil sie wissen, dass sich ihre Eltern keine Gegeneinladung an andere Kinder leisten können. Herr Hummel, Sie hatten als Rektor einer Innenstadtschule mit benachteiligten Kindern zu tun. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Hummel: Wer in beengten Verhältnissen lebt oder sein Kinderzimmer mit zwei, drei Geschwistern teilen muss, kann andere Kinder nicht nach Hause einladen. Manche Kinder leben in so kleinen Wohnungen, dass sie erst einschlafen können, wenn der Vater zu Bett geht, weil das Sofa erst dann zum Kinderbett wird. Wo bleibt die Bildungsgerechtigkeit, wenn Familien nicht mal das Geld haben, damit ihre Kinder die Schulsachen in Ordnung halten können? Nur 30 Prozent der Eltern, die Anspruch hätten, nehmen Hilfen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch. Sie verzichten darauf, weil sie gar nicht wissen, was ihnen zusteht, oder weil die Formulare viel zu kompliziert sind. Diese Kinder bekommen ihre Benachteiligung Tag für Tag in ganz unterschiedlichen Bereichen zu spüren. Vielen ist es sehr unangenehm, wenn sie wissen, dass sie ihren Lehrern zusätzlich Mühe bereiten. Dabei müssen sie selbst am meisten leiden.

Dabei wird in jungen Jahren die Grundlage für das weitere Leben gelegt ...
Longin: Viel zu oft entscheidet die wirtschaftliche und soziale Situation im Elternhaus über die Bildungschancen der Kinder. Kinder brauchen Bildung, damit ihr weiterer Lebensweg gelingt. Dazu wollen wir unter anderem mit der Initiative Mach Dich stark, an der sich auch die Kinderstiftung beteiligt, beitragen. Kinder unterschiedlicher Herkunft werden so beim gemeinsamen Lernen und Entdecken gefördert, bei ihrer Lese- und Sprachkompetenz unterstützt, und Eltern werden in ihrem Erziehungsalltag gestärkt.

Kinderarmut bedeutet in vielen Ländern Hunger. Bleibt wenigstens das Kindern aus armen Familien bei uns erspart?
Hummel: Ein Drittel der Kinder kommt in Baden-Württemberg ungefrühstückt zur Schule. Viele haben auch kein Pausenbrot dabei – oder eines, das so ärmlich aussieht, dass sich das Kind nicht traut, es beim gemeinsamen Frühstück auszupacken. Manche Grundschullehrer haben immer ein paar Knabbereien dabei, um Kindern aus armen Familien solche Peinlichkeiten zu ersparen. Wir brauchen verbindliche Antworten auf solche praktischen Fragen aus dem Alltag: Wie geht die Schule etwa mit Kindern um, bei denen der Elternanteil fürs Mittagessen nicht bezahlt ist? Das sind Themen, mit denen sich Pädagogen heute auseinandersetzen müssen. Wie reagieren Kinder, wenn sie sehen, dass Mitschüler vieles nicht haben, was sie ganz selbstverständlich bekommen?
Hummel: Natürlich muss man solche Unterschiede in der Klasse ansprechen. Kinder müssen wissen, dass es unterschiedliche Lebenssituationen gibt – genau wie es unterschiedliche Herkünfte und Religionen gibt. Das muss man sehr sensibel thematisieren. Nicht dass ein Kind aus einer armen Familie das Gefühl hat, vor der ganzen Klasse auf dem heißen Stuhl zu sitzen. Wenn man das richtig gemacht hat, ist noch jede Klasse vernünftig damit umgegangen, dass ein Mitschüler solche Probleme hatte. Leider sind Lehrer oft gar nicht auf solche Situationen vorbereitet. Deshalb ist uns der Gesprächsabend am Mittwoch so wichtig, weil dort Pädagogen aus Kitas und Schulen mit Sozialarbeitern und Behörden zusammenkommen, um mögliche Antworten zu entwickeln.

Wie schafft man es, Armut zu thematisieren, ohne Betroffene zu stigmatisieren?
Longin: Das ist gerade bei uns in Schwaben schwierig, weil das Thema Armut schambehaftet ist. Zunächst muss man klar machen, dass Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind, nicht weniger fleißig sein müssen als andere. Und dass ganz viele schon gar nicht für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind. Armut ist ein gesellschaftliches Problem. Deshalb braucht es nicht nur die eigene Anstrengung, sondern neben der Politik und einzelnen Initiativen alle gesellschaftlichen Kräfte, um Armut aus der Welt zu schaffen.

Was muss die Gesellschaft und was kann der Einzelne gegen das soziale Ungleichgewicht in unserem Land tun?
Longin: Wenn ich unsere Kinderstiftung anschaue, sehe ich ganz viele Menschen, die sich dort gegen Kinderarmut engagieren. Und das Netzwerk wird immer größer. Mit der Initiative Mach Dich stark, die etwas gegen Kinderarmut im Südwesten tun will, wollen wir eine zivilgesellschaftliche Bewegung erreichen. Armut ist ein Problem, das wir nur gemeinsam lösen können. Und das beginnt damit, dass wir die Problematik sichtbar machen. Hummel: Wir brauchen beides – die Einzelfallhilfe und das bewundernswerte Engagement vieler Menschen, zum Beispiel in der Kinderstiftung und vielen anderen Organisationen. Die Politik muss aber auch strukturell etwas tun. Das beginnt beim Steuersystem, geht weiter mit den finanziellen Hilfen, die direkt bei Familien ankommen und reicht bis hin zu einer Vereinfachung der Formalien. Da ist die Politik noch zu langsam – auch wenn man zuletzt den Eindruck hatte, dass manche erkannt haben, was getan werden muss.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Leistung über alles geht. Sind Kinder, die trotz widrigster Umstände Tag für Tag aufs Neue versuchen, ihr Leben irgendwie zu meistern, nicht die wahren Helden?
Hummel: Solche Kinder haben oft Sorgen, die sich ihre Mitschüler gar nicht vorstellen können. Es gehört einiges dazu, jeden Morgen pünktlich aufzustehen, sich und die Schulsachen zu richten und in der Schule mitzuarbeiten, wenn zum Beispiel der Vater Alkoholiker und die Mutter depressiv ist. Ja, das sind die wahren Helden. Und dennoch haben diese Kinder viel schlechtere Voraussetzungen als andere, weil sich die Probleme, für die sie nichts können, multiplizieren. Deshalb gehen aus armen Familien so oft wieder arme Familien hervor, weil diese Kinder aus ihren Möglichkeiten so wenig machen können. Den Teufelskreis der Armut müssen wir gemeinsam durchbrechen. Da hat die Ganztagesschule einiges bewirkt. Wenn alle zusammen in der Schule Hausaufgaben machen, fällt es nicht auf, wenn ein Kind zuhause nicht mal einen Tisch zum Lernen hat und wenn die Eltern nicht helfen können. Schule kann ganz viel ausgleichen.

Das Interview führte Alexander Maier.

Veranstaltung am 27. März über Kinderarmut in einem reichen Landkreis

Die Interviewpartner: Klaus Hummel war lange Jahre Rektor der Esslinger Katharinenschule. Auch im Ruhestand ist der studierte Pädagoge ein gefragter Fachmann für schul- und bildungspolitische Fragen. Dem Esslinger Gemeinderat gehört er seit 1980 an, eine Zeit lang leitete er kommissarisch das städtische Schul- und Sportamt. Olivia Longin ist Geschäftsführerin der Kinderstiftung Esslingen-Nürtingen und hat in dieser Funktion immer wieder mit ganz konkreten Auswirkungen der Kinderarmut zu tun.

Die Veranstaltung: „Kinderarmut in einem reichen Landkreis“ ist der Titel einer Veranstaltung, die am Mittwoch, 27. März, von 19 bis 21 Uhr im Forum Esslingen (Schelztorstraße 38) stattfindet. Gemeinsam soll dort überlegt werden, wie Lehrer und Schulleiter mit diesem Problem umgehen, was die Schulsozialarbeit tun kann, wie Bildungseinrichtungen Kindern Chancen geben können und welche Hilfen Schulen gerade in herausfordernden Milieus und Vielfaltsquartieren anbieten können. Zur Einstimmung gibt es einen Kurzfilm über ein Projekt von Schülerinnen des Berliner Beethoven-Gymnasiums, anschließend wird Klaus Hummel mit Blick auf die Esslinger Sozialdaten erläutern, wie akut sich das Problem vor Ort zeigt. Anschließend wird die Thematik in Arbeitsgruppen vertieft. Das Motto der Veranstalter lautet: „Kein Kind darf verloren gehen. Machen wir Kinder stark.“