Udo Goldmann Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Die Esslinger Musikszene schlägt Alarm: Seit bekannt wurde, dass man sich im Rathaus mit dem Gedanken trägt, das Gemeindehaus am Blarerplatz von der evangelischen Kirche zu kaufen und dort die Stadtbücherei unterzubringen, fürchten viele Chöre und Orchester um ein wichtiges Standbein ihrer Arbeit. Denn das Gemeindehaus bietet Vorzüge, die bei Konzerten besonders geschätzt werden. Deshalb kämpfen viele Musikbegeisterte in Esslingen um den Erhalt des Gemeindehauses als Veranstaltungs- und Probenort. Ob am Rande von Konzerten oder nach den Proben - überall schlägt dieses Reizthema derzeit hohe Wellen. Die EZ hat sechs Fachleute nach ihrer Einschätzung befragt.

Cornelius Hauptmann kann kaumglauben, dass die Stadt ernsthaft daran denkt, das Gemeindehaus am Blarerplatz zur Bücherei zu machen - und dass dieser Gedanke für manche im Rathaus weit mehr ist als nur eine Variante unter vielen: „Die Bücherei hat alle Unterstützung verdient, aber sie hat im Bebenhäuser Pfleghof weitaus bessere Möglichkeiten. Die sollte man endlich konsequent nutzen - Konzepte gibt es ja.“ Der erfolgreiche Opernsänger fürchtet Schlimmstes, wenn Stadt und Kirche mit ihren Überlegungen ernst machen sollten: „Wenn man sich anschaut, wer das Gemeindehaus am Blarerplatz für Proben und Konzerte nutzt, weiß man sofort, was auf dem Spiel steht. Das darf man nicht zulassen.“

Der Musikschule drohen Raumnöte

Das sieht auch Ulrike Gräter so. Die Vorsitzende des Esslinger Vocalensembles ist in der Szene bestens vernetzt und weiß: „Wer in Esslingen Musik macht, ist dort schon aufgetreten. Man würde vielen den Boden unter den Füßen wegziehen.“ Doch es sind nicht nur Chöre, Orchester oder die Kantoreien der Esslinger Stadtkirche, für die das Gemeindehaus unverzichtbar ist. „Man darf auch die städtische Musikschule nicht vergessen. Kooperationen von Kinderchor und Kurrende und der Musikschule werden im Festsaal aufgeführt - man erinnere sich nur an das tolle Musical ‚La Piccola Banda‘. Und der Melanchthonsaal im Gemeindehaus wird ständig von der Musikschule genutzt“, sagt Ulrike Gräter. „Wenn die Bücherei ins Gemeindehaus einziehen sollte, wird jeder Quadratmeter gebraucht, um deren Bedarf auch nur annähernd zu decken. Darunter würde die Musikschule erheblich leiden.“ Manche wundern sich, weshalb sich der Musikschul-Leiter genau wie die Bücherei-Leiterin noch nicht zu Wort gemeldet hat. Doch von beiden ist keine Stellungnahme zu erhalten. „Man könnte vermuten, dass sie sich nicht äußern dürfen, obwohl die Stadt von einer ergebnisoffenen Prüfung der Standort-Alternativen spricht“, sagt Sabine Bartsch, die Sprecherin des Esslinger Netzwerks Kultur.

Als einstiger Kulturbürgermeister äußert sich Udo Goldmann nicht zu kommunalpolitischen Themen. „Doch in diesem Fall bleibt mir als Präsident des Chorverbands Karl Pfaff keine andere Wahl“, sagt er. „Das bin ich unseren 16 Chören mit ihren 850 Mitgliedern schuldig, die dort auftreten oder proben.“ Goldmann wundert sich, dass nicht von Anfang an viel offener diskutiert wird, sondern vieles im Verborgenen läuft. Dass das Gemeindehaus entscheidend ist für eine lebendige und facettenreiche Musikszene, ist für ihn klar: „Das Haus hat eine großartige Akustik, es ist fußläufig für alle gut erreichbar, es hat eine Kapazität, die man ansonsten in der Stadt kaum findet, die nötige Infrastruktur ist da, und die Miete ist erschwinglich.“ Lob gibt es auch von Cornelius Hauptmann: „Dieses Haus erfüllt hohe klangliche Anforderungen.“

Wenn Chören und Orchestern empfohlen wird, ins Neckar Forum umzuziehen, kann Dieter Bayer von der Stadtkapelle nur den Kopf schütteln: „Da muss man sich nur mal die Mietpreise anschauen. Als Verein bekommen wir ein Konzert im Jahr zu einem stark subventionierten Preis - ein zweites zum vollen Preis können wir uns nicht leisten.“ Das kann Sabine Bartsch als Geschäftsführerin des Kulturzentrums Dieselstraße bestätigen: „Wir hatten einen Kabarettisten im Forum. Eine Person auf der Bühne, ein Mikrofon - mehr nicht. Am Ende haben wir 4000 Euro Miete bezahlt. Das kann sich kaum ein Verein öfter leisten.“

Brauchbare Alternativen fehlen

Und wie sieht es mit anderen Hallen aus? „Große Alternativen gibt es in Esslingen nicht“, weiß Bayer. „Das Zentrum Zell wurde abgerissen, der Hochschul-Aula an der Flandernstraße fehlt es an Atmosphäre und sie wird auch wegfallen, beim CVJM ist die Bühne zu klein für größere Ensembles, und außerdem ist der Saal meist ausgebucht. Einen Konzertsaal wie am Blarerplatz findet man sonst nicht in Esslingen.“ Jörg Dobmeier, der künstlerische Leiter des Oratorien-Vereins, bestätigt: „Das Gemeindehaus ist für die Musik unverzichtbar, weil es in Esslingen überhaupt nichts gibt, das so perfekt funktioniert. Und die Anbindung an die Franziskanerkirche, die ideal ist für Veranstaltungen mit meditativem Charakter, ist etwas Einzigartiges.“

Wenn nun Sporthallen für Proben und Konzerte ins Gespräch gebracht werden, findet Dobmeier das grotesk: „Den Hallen fehlen die nötige Akustik und die Atmosphäre, in der man Musik genießen kann und will. Wer mag schon klassische Musik im Sockenmief hören? Das würde dazu führen, dass niemand mehr kommt. Die Stadt kann das nicht wollen. Nichts gegen den Sport, aber alles hat seinen Platz. Außerdem sind die meisten Sporthallen sehr gut ausgelastet.“ Und wie wären Konzerte in Kirchen? „Manches wäre dort denkbar“, findet Goldmann. „Aber viele Ensembles haben ein sehr weltliches Repertoire. Trinklieder mit einer Weinprobe passen ins Gemeindehaus, aber nicht in eine Kirche.“

Dass die Stadt ihrer Bücherei mit dem Gemeindehaus am Blarerplatz einen Gefallen tun würde, kann sich Jörg Dobmeier kaum vorstellen: „Das Gemeindehaus ist architektonisch ganz deutlich einem Kirchenbau nachempfunden. Da kann man nicht einfach etwas ganz anderes implantieren. Das wäre ein Fiasko für die Musik in Esslingen und für die Bücherei. Das Gemeindehaus ist so, wie es ist, etwas ganz Kostbares für Esslingen. Ich hoffe, dass der Denkmalschutz solche Überlegungen stoppt. Das ist ein ganz heißes Eisen, weil man die Folgen gar nicht absehen kann.“

Ulrike Gräter betont, dass man in der Esslinger Musikszene Verständnis für die Raumnöte der Stadtbücherei hat: „Ich kenne die Bibliothek und weiß, wie gut dort gearbeitet wird. Einen besseren Standort als den Bebenhäuser Pfleghof wird man kaum finden. Gerade wegen der dortigen unvergleichlichen Atmosphäre ist die Bücherei so beliebt.“ Und noch etwas spricht für Sabine Bartsch gegen das Gemeindehaus: „Man muss sich nur den Grundriss anschauen. Dort wird man nie die Fläche bekommen, die die Bücherei braucht. Nach diesen langen Jahren des Wartens kann sich unsere Bücherei keine Mini-Lösung leisten. Das Klein-Klein-Denken, das hinter einem Umzug an den Blarerplatz stehen würde, passt nicht zu Esslingen.“Außerdem fürchtet Sabine Bartsch bei einem Auszug der Bücherei um die Zukunft des Bebenhäuser Pfleghofs: „Wenn dieses historische Gebäude veräußert werden würde, wäre das schlimm. Die Dieselstraße hat das alte Zollamt nicht bekommen - jetzt soll dort ein Schnellrestaurant rein. Das darf sich nicht wiederholen.“

Udo Goldmann mag sich so recht nicht vorstellen, dass die evangelische Kirche dieses zentrale Gemeindehaus abgeben wird - auch wenn manche vielleicht froh wären, wenn die großen Einsparungen in der Innenstadt und nicht in den Stadtteil-Kirchengemeinden getätigt werden würden: „Ich weiß nicht, ob das klug wäre für die Kirche. Für die finanzielle Situation der Kirche habe ich Verständnis, aber sie tut sich keinen Gefallen, wenn sie nur Gebäude verkauft, ohne eine langfristige Perspektive zu entwickeln. Auch der Glaube braucht Räume.“ Keiner der sechs Musikexperten verkennt die finanziellen Nöte der evangelischen Kirche. Sabine Bartsch ist davon überzeugt, dass sich das Gemeindehaus effektiver vermarkten ließe, und Ulrike Gräter empfiehlt: „Wenn die Kirche mit dem Gemeindehaus ein Stück kommunaler Infrastruktur vorhält, das die Stadt nicht anbietet, könnte man sich überlegen, ob Stadt und Kirche das Haus gemeinsam tragen. Da könnten Synergien entstehen.“

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Dass die Stadt eine Verpflichtung gegenüber ihren musiktreibenden Vereinen und Ensembles hat, ist für Cornelius Hauptmann keine Frage: „Die Unesco-Konvention verpflichtet uns, kulturelle Räume zu erhalten. Es genügt nicht, solche Gedanken nur in Fensterreden zu formulieren - man muss sie im Alltag leben. Dazu gehört, bezahlbare Probenorte und Konzertmöglichkeiten nicht aufzugeben.“ Das hat für Ulrike Gräter auch eine ganz persönliche Dimension: „Die Stadt betont gern, wie wichtig ihr das ehrenamtliche Engagement ihrer Vereine ist. Hier hat sie die Möglichkeit, ihre Wertschätzung ganz praktisch zu zeigen. Wenn man uns das Gemeindehaus nehmen würde, wäre das das glatte Gegenteil.“