Kerstin und Karl-Heinz Eichhorn aus Sulzgries machen sich auf ihrem selbst gebauten Tandem auf den Weg in die Landeshauptstadt. Fotos: Bail Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

500 Fahrradfahrer aus der ganzen Region haben sich am Sonntagvormittag auf dem Esslinger Bahnhofsvorplatz getroffen, um gemeinsam im Rahmen der Radsternfahrt Baden-Württemberg auf den Stuttgarter Schlossplatz zu radeln. Unter dem Motto „FahrRad statt Feinstaub“ haben der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) und Verbände wie das Bündnis Esslingen aufs Rad zum Mitradeln aufgerufen. Das Besondere: Polizeifahrzeuge mit Blaulicht machten den Bikern den Weg frei. Mit E-Bikes, Mountainbikes oder ganz normalen Stadträdern durfte Groß und Klein auf eigens gesperrten Straßen über Obertürkheim und Bad Cannstatt bis ins Herz der Landeshauptstadt zu den Fahrradaktionstagen fahren. Rote Ampeln interessierten nicht. Die Radler hatten Vorfahrt.

Oberbürgermeister Jürgen Zieger begrüßte nicht nur die Radler aus Kirchheim, Geislingen, Plochingen, Esslingen und der gesamten Umgebung, die in Esslingen bei kostenlosen Laugenbrezeln in Fahrradform und Getränken eine Verschnaufpause einlegten. Der sportliche Rathauschef reihte sich in den Pulk von 500 Teilnehmern ein. Die Strecke dürfte für den passionierten Mountainbikefahrer kein Problem sein. Jedes Jahr steht für ihn eine einwöchige Alpentour an, bei der 400 Kilometer und 7000 Höhenmeter bezwungen werden.

Federführend organisiert wurde die Aktion, die als kleines Dankeschön an die Radler gedacht ist, von Sabine Frisch vom Sachgebiet Nachhaltigkeit und Klimaschutz im Stadtplanungsamt. Umweltverträglichkeit, Lärm, Feinstaub und Platzbedarf nennt sie als Gründe fürs Forcieren des Fahrradfahrens. „Je mehr Menschen Radfahren, umso angenehmer ist es für alle.“ Nicht nur Ehemann Matthias Zahn trägt das mit. Sohn Hugo radelt mit viereinhalb Jahren selbstständig bis Stuttgart. Der zweijährige Theo genießt die Tour im Anhänger.

Seit 2014 hat sich, nach Einschätzung von Thomas Albrecht vom Bündnis Esslingen aufs Rad, nichts verbessert. Obwohl sich 237 Personen am Stadtradeln beteiligt haben, hat Esslingen beim ADFC Fahrradklimatest 2016 die Note 4,2 erhalten. Im landesweiten Städte ranking bedeutet das einen miserablen zwölften von insgesamt 13 Plätzen. Verbesserungen wären: die sichere Anbindung der Fahrradstraße an die Innenstadt und den Radschnellweg Neckar angehen.

Der ADFC-Kreisverbandsvorsitzende Thomas Rumpf wies in einer kurzen Ansprache darauf hin, wie es ist, wenn das Fahrrad Vorfahrt hätte, wenn man keine Umwege oder schlechte, verunreinigte und unsichere Wege in Kauf nehmen müsste. Bei der Sternfahrt werde man zügig vorankommen, wie auf künftigen Radwegen. Er forderte, dass sich der Anteil der gefahrenen Radverkehrswege am gesamten Verkehrsaufkommen bis 2025 verdoppeln soll. OB Zieger versprach: „Wir schaffen mehr.“

Vier Polizeimotorräder und drei Polizeifahrzeuge eskortierten die 500 Radler mit Blaulicht. Nach der Express-Strecke von Geislingen bis Esslingen, wo 25 Stundenkilometer gefahren wurden, galt ab Esslingen ein familienfreundliches Tempo mit zwölf Kilometern pro Stunde.

Dass man sich nicht auf schlechten Radwegen bewegen muss, ist für die Freunde Moritz Diemer und Moritz Stadelmaier ein Grund, samt Kindern teilzunehmen. Amelie (eineinhalb) und Emil, fast zwei, fühlen sich im Kinderanhänger pudelwohl. Durch den für Autos gesperrten Schwanentunnel zu radeln ist für Diemer neben dem Picknick ein weiterer Anreiz.

Das Gesellige zählt bei vielen Radlern: Räder checken, essen und trinken am Schlossplatz. Das sind für Huseyn Ersoy und Ali Eser aus Ostfildern Argumente, sich in den Sattel zu schwingen. „Die Straßen sind gesperrt, man kann gut fahren. Wo gibt’s so was?“, freute sich Eser, der seit den 90-er Jahren radelt.

Dieter Ulke (67) fuhr im vergangenen Jahr 5000 Kilometer mit dem Rad und 2500 mit dem Auto. Zu 70 Prozent sind es gesundheitliche Gründe. „Wenn ich laufe, tun mir die Gelenke weh. Beim Radfahren merke ich nichts.“ Gemeinsam mit Wolfang Merk (70), der auch mal den Motor zuschaltet, wollte er die 500 Kilometer des Inntalradwegs über den Malojapass bis Paussau packen. In Wasserburg fiel die Tour wegen Regen ins Wasser.

Ein Hingucker sind Kerstin und Karl-Heinz Eichhorn aus Sulzgries mit ihrem motorisierten Liegetandem, das der 56-jährige Maschinenbaumeister entwickelt und gebaut hat. Vorteil: das Tandem bündelt Kräfte. „Er ist Triathlet, ich bin unsportlich. Gemeinsam Fahrradfahren war schwierig“, erklärte Kerstin Eichhorn den Grund für den ausgetüftelten Eigenbau, der sogar in Serie gehen könnte. Beide genießen das Fahren in der Gruppe, möchten aber auch darauf aufmerksam machen, dass mehr für Radfahrer getan werden muss.

In Holland boomen die Dreiräder. In Esslingen gibt es die Spezialräder mit Motor für Menschen mit Handicap seit vergangenem Jahr. Die „E-motion E-Bike Welt Stuttgart „ stellte elektrisch betriebene Lastenräder, Parallel-Tandem und das Velo-Plus vor. Geschäftsführer Ralf Gagstatter spricht von einer Nische. An drei Standorten stehen insgesamt 15 Dreiräder für Probefahrten zur Verfügung. Auf dem Parallel-Tandem können Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung gemeinsam mit einer Begleitperson fahren. Das Velo-Plus verfügt über eine absenkbare Plattform, auf der ein Rollstuhl gesichert werden kann und mit dem Lastenrad kann vom Großeinkauf bis zum Kurierdienst alles erledigt werden.

Ebenfalls mit dabei: Christine Locher, seit Oktober vergangenen Jahres Verkehrsplanerin im Stadtplanungsamt Esslingen und damit zuständig für die Infrastruktur. Wegen interner Personalprobleme sei wenig passiert. Allerdings wurden die Radwegmaßnahmen mit Gesamtkosten von einer Million Euro wie ein Fahrradstreifen an der Hohenheimer Straße nach Osfildern und der Bahntunnel am Roßneckar vom Tiefbauamt fortgeführt.