Fran Foto: Bulgrin - Bulgrin

Die Reichspogromnacht vor 80 Jahren war das Fanal zum größten Völkermord Europas. Das Theodor-Heuss-Gymnasium gestaltet die Gedenkfeier in Esslingen – mit der Erinnerung an ein „Euthanasie“-Opfer.

EsslingenEin Stundenplan, etwas Gesticktes, Zeichnungen aus dem Kunstunterricht, ein paar selbst verfasste Gedichte. Es waren eigentlich ganz alltägliche Gegenstände, die die Esslinger Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn-Jandt der Klasse 10c des Theodor-Heuss-Gymnasiums in den Unterricht mitgebracht hatte. Und doch sind sie etwas ganz besonderes. „Wir hatten sie in der Hand, wir durften die Sachen berühren“, erzählt die 14-jährige Franka Rossa. Sie gehörten Magdalene Maier-Leibnitz, 1916 im ehemaligen Kaisheimer Pfleghof an der Esslinger Burgsteige geboren, in der Deffnerstraße gut bürgerlich und behütet aufgewachsen. Ihr Onkel Reinhold Maier war Baden-Württembergs erster Ministerpräsident, ihr Vater Hermann Maier-Leibnitz Professor an der Universität Stuttgart, ihr älterer Bruder Heinz ein renommierter Physiker. Georgii-Schülerin, bis sie das Gymnasium krankheitsbedingt verließ. Nach zwei Internatsschulen und mehreren Klinikaufenthalten kam sie von 1938 bis 1941 in die damalige Privatklinik Kennenburg – bis sie 1941 mit gerade einmal 25 Jahren aufgrund der Diagnose Schizophrenie von den Nationalsozialisten als sogenanntes „Euthanasie“-Opfer in Hadamar umgebracht wurde.

Vor zwei Jahren hatte das THG zum ersten Mal die Gedenkfeier des Vereins Denk-Zeichen zu den Novemberpogromen 1938 gestaltet – damals unter der Regie von Lehrerin Sabrina Winter in der Franziskanerkirche. Damals stand der Überfall auf die Esslinger Synagoge und das Israelitische Waisenheim in den Mittagsstunden des 10. November 1938 im Vordergrund.

Dieses Jahr hat sich Denk-Zeichen entschieden, die Geschichte von Magdalene Maier-Leibnitz in den Fokus zu rücken, erzählt Beate Goppelsröder. Eine Entscheidung, die die Jugendlichen besonders berührt, wie Stephan Wennagel bestätigen kann. Schon im vergangenen Schuljahr hat sich der Geschichtslehrer mit seinen Schülerinnen und Schülern nicht nur lehrplanmäßig auf das düsterste Kapitel deutscher Geschichte vorbereitet, sondern sich auch auf die Ausrichtung der Gedenkfeier in diesem Jahr eingestellt. Und er ist sehr stolz darauf, dass fast alle aus der 10c am Samstagabend mit dabei sind, obwohl sie gerade in einer üppigen Klassenarbeitsphase stecken.

Denk-Zeichen hat dann auch den Kontakt zu Gudrun Silberzahn-Jandt hergestellt, die zu den sogenannten „Euthanasie“-Morden und den Zwangssterilisationen in Esslingen geforscht und ihre Ergebnisse veröffentlicht hatte -- darunter auch einen Aufsatz über Magdalene Maier-Leibnitz. Der Besuch von Silberzahn-Jandt im Unterricht war nicht nur ein eindrückliches Erlebnis für die Jugendlichen. Aus dem Aufsatz heraus hat Wennagel mit ihnen dann einen Zeitstrahl konstruiert, der die Stationen im Leben von Magdalene wiedergibt und der sich mit der theaterpädagogischen Unterstützung von Sabrina Winter am Samstag durch die Gedenkfeier ziehen wird: Er zeigt Magdalenes Freude am Zeichen und an den Gedichten, aber auch ihr zunehmendes Leiden, ihre unglückliche Liebesgeschichte, ihre Krankenstationen – unterbrochen vom „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 – und dann im Oktober 1939 von Hitlers Ermächtigungsschreiben „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustands der Gnadentod gewährt werden kann.“ Dem folgen die letzten beiden Stationen in Magdalenes Leben: Die Verlegung in die psychiatrische Landesklinik Weinsberg, der Transport nach Hadamar, der Tod in einer Gaskammer, der der Familie als Sterben nach einer Tuberkulose-bedingten Lungenembolie verkauft wurde.

Die Schülerinnen und Schüler tragen zwei Gedichte von Maier-Leibnitz selbst vor, die Schweigeminute leitet Franka Rossa mit ihren eigenen Worten ein: „Ein Funken Hoffnung/Gefangen/In mitten Dunkelheit/ Ein schwieriger Kampf/ Doch die Dunkelheit überwiegt/ Was bleibt sind schöne Momente/ Im Gedenken.“ Den Satz „Ich bin hier, weil ... werden dann annähernd 30 Jugendliche auf ihre ganz persönliche Weise selbst vervollständigen. Franka Rossa: „Die Menschen dürfen nicht vergessen, was passiert ist.“ Das ist aktueller denn je – findet auch Beate Goppelsröder.

Die Esslinger Gedenkfeier für die Opfer der Novemberpogrome findet am Samstag, 10. November, um 18 Uhr in der Johanneskirche am Charlottenplatz statt.