Dieser Schüler kann sich auf dem Rad halten, ohne umzukippen. Inzwischen ist das nicht mehr selbstverständlich. Laut Innenministerium hapert es beim Nachwuchs an der Motorik. Esslinger Verkehrserzieher bestätigen diesen Eindruck. Foto: dpa - dpa

Die Kinder können nicht mehr Rad fahren – behaupten Esslinger Verkehrserzieher. Zu viele Fernsehshows und Computerspiele, zu wenig Bewegung in der Natur. Jetzt will das Land mit einem neuen Lehrplan umsteuern.

Esslingen Erst der PISA-Schock, dass die deutschen Schüler beim Lesen, in Mathematik und den Naturwissenschaften im internationalen Vergleich schlecht abschneiden. Dann die Hiobsbotschaft, dass der Nachwuchs nicht ordentlich schwimmen kann. Und jetzt die ernüchternde Nachricht, dass die Kleinen anscheinend auch mit dem Rad nicht sicher unterwegs sind. Laut baden-württembergischen Innenministerium sind im vergangenen Schuljahr mehr als 13 Prozent der Viertklässler bei der Radfahrausbildung durchgefallen. Dieser Wert bestätige einen Trend, der sich bereits seit Jahren fortsetze: Der Nachwuchs würde immer ungelenker. Diese Einschätzung teilen auch Esslinger Verkehrsexperten.

Doch ist es wirklich so schlimm? Sind die deutschen Kinder innerhalb weniger Jahre zu chipsfutternden Stubenhockern mutiert, die lieber auf den Fernseher oder Computer starren, als durch Feld, Wald und Wiesen zu toben? Die Eßlinger Zeitung hat sich im Landkreis umgehört bei denen, die es wissen müssen: der Polizei und der Verkehrswacht, die gemeinsam mit den Grundschulen die Verkehrserziehung der Kinder übernehmen, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club, der bundesweit 170 000 Radler vertritt, und den Verkehrsplanern, die Radwege bauen.

Verpflichtende Verkehrserziehung für Viertklässler

Für Viertklässler schreibt der Lehrplan des Landes Baden-Württemberg die Verkehrserziehung verpflichtend vor. Die Grundschule unterrichtet die Theorie. Die praktischen Übungen absolvieren die Schüler mit Unterstützung der Verkehrsprävention. Dieser Einheit gehören im Landkreis Esslingen elf Beamte des Polizeipräsidiums Reutlingen an. Sie nutzen die Übungsplätze der zwei Verkehrswachten im Kreis: der Kreisverkehrswacht Esslingen und der Verkehrswacht Neuffen-Teck in Nürtingen. Dort trainieren jährlich circa 250 Klassen Vorfahrtsregeln, Linksabbiegen, Sicherheitsabstände und mehr. Für den Unterrichtsstoff sind vier Übungseinheiten à 90 Minuten vorgesehen. „Das Pensum ist umfangreich, der Zeitplan eng getaktet“, sagt Markus Lorenz, Referent für Verkehrsprävention beim Polizeipräsidium Reutlingen. „Wenn dann Kinder nicht Rad fahren können, hat die Polizei keine Zeit, ihnen das beizubringen.“ Diese Kinder könnten dann nicht an den Verkehrsübungen teilnehmen. Und es würden immer mehr. „Die Motorik der Kinder ist weniger trainiert, und ihre Sicherheit auf dem Rad hat abgenommen“, erklärt Lorenz.

Dass mehr Kinder bei der Radfahrprüfung durchfallen, davon könne allerdings seit vergangenem Schuljahr keine Rede mehr sein. Denn damals ist die Prüfung am Ende des Unterrichts abgeschafft worden. Seitdem geht es nicht mehr um Bestehen oder Durchfallen. Stattdessen erhalten die Schüler eine Teilnahmebestätigung, die ihre Leistung während des gesamten Lehrgangs beurteilt. Defizite werden festgehalten, damit die Schüler und ihre Eltern wissen, wo sie noch üben müssen. Lorenz begrüßt diese Neuerung, weil sie ein Gesamtbild liefere statt einer Momentaufnahme, die ohnehin nicht repräsentativ sei. Zwar wird auf den Zertifikaten unterschieden zwischen den Prädikaten „mit Erfolg teilgenommen“ und einfach nur „teilgenommen“. Doch verbindlich ist diese Beurteilung nicht. Ob die Kinder auf der Straße radeln dürfen, entscheiden allein ihre Eltern – unabhängig von der polizeilichen Leistungskontrolle.

Schulung schafft nur Grundlagen

Dabei bedeute selbst ein mit Erfolg absolvierter Radfahrunterricht noch lange nicht, dass die Kinder jetzt sicher am Straßenverkehr teilnehmen können, betont Dietmar Munz. „Die Schulung schafft nur Grundlagen“, erklärt der Verkehrspräventionsbeamte. Danach müssten die Kinder kräftig üben. Denn in einem sind sich alle einig: Beim Nachwuchs hapert es an der Motorik, und zwar weil er sich zu wenig bewegt – aus welchen Gründen auch immer. Gerhard Bredschneider, Geschäftsführer der Kreisverkehrswacht Esslingen, gibt die Schuld dem Elterntaxi, das die Radtour der Kinder zur Schule ersetzt. In ihrer Freizeit hockten die Kinder dann drinnen vor dem Fernseher oder Computer, anstatt draußen auf Bäumen herumzuklettern. Die Grundschulen zur Verantwortung zieht Mathias Rady, Geschäftsführer vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club, Kreisverband Esslingen. Viele wollten nicht, dass die Kinder mit dem Rad zur Schule fahren. „Erst nach dem Radfahrunterricht in der vierten Klasse. Das ist aber zu spät.“ Verkehrspräventionsbeamter Dietmar Munz vermutet, dass berufstätige Eltern aus Zeitmangel nicht mit ihren Kindern Radfahren üben, und es in der Stadt ohnehin wenig sichere Verkehrsflächen zum Üben gäbe.

Das bestreitet die städtische Verkehrsplanerin Christine Locher. „In der Esslinger Innenstadt gibt es verkehrsberuhigte Spielstraßen“, sagt sie. „In Wohngebieten Wirtschaftswege, die für den normalen Verkehr gesperrt sind.“ Auf der Neckarinsel könnten Kinder in einem sicheren Umfeld Radfahren üben, ebenso auf dem Neckartalweg, dem Esslinger Höhenwanderweg und dem Hohenzollernradweg – auch wenn die letzten beiden recht steil seien. Um die Fahrsicherheit zu erhöhen, hat die Stadt Esslingen vor einigen Jahren das Projekt „Schulradler“ angestoßen. Dabei sollten Fünftklässler unter Aufsicht von zwei älteren Begleitern morgens in Gruppen zur Schule radeln. Das Projekt am Laufen zu halten, liegt laut Verkehrsplanerin Locher in der Verantwortung der Schulen. Um im Unterricht sichere Radstrecken von Zuhause zur Schule auszuarbeiten, stelle das Land Baden-Württemberg den Schulen Unterrichtsmaterial zur Verfügung.

Das Land hat sich bereits im vergangenen Schuljahr des Themas Verkehrssicherheit angenommen. Zugleich mit der Reform der Radfahrprüfung haben Innen- und Kultusministerium an einer weiteren Stellschraube im Lehrplan gedreht: Künftig soll ein Motoriktraining bereits in den Sportunterricht der Erst- und Zweitklässler eingebaut werden. Als Ausgleich wurden die ursprünglich fünf praktischen Radfahreinheiten in der vierten Klasse auf nunmehr vier doppelte Schulstunden reduziert. „Ob die neuen Maßnahmen greifen, bleibt abzuwarten“, resümiert Lorenz von der Verkehrsprävention. Das zeige sich erst in ein, zwei Jahren.