Ein Fragebogen steht am Anfang der Ausstellung. Foto: kry - kry

Die Realität der Heimkinder in der BRD zwischen 1949 und 1975 arbeitet eine Ausstellung auf, die bis zum 23. November im Theodor-Rothschild-Haus in Esslingen zu sehen ist.

EsslingenDie Zeit zwischen 1949 und 1975 gehört zu den dunklen Kapiteln deutscher Zeitgeschichte. Da existierten allein in Baden-Württemberg über 600 Säuglings-, Kinder- und Jugendheime. Bundesweit wuchsen 800 000 Menschen dort auf. Mit der Wanderausstellung „Verwahrlost und Gefährdet“ will das Landesarchiv Baden-Württemberg Einblick in den Heimalltag gewähren. Dazu kommen Zeitzeugenberichte, die die Gefühlswelt ehemaliger Heimkinder beschreiben.

Projektleiterin Nora Wohlfarth begleitet die Ausstellung. „Am Anfang steht ein Fragebogen.“ Dieser zeigt auf, wie schnell es gehen konnte, dass ein Kind ins Heim gesteckt wurde. „Uneheliches Kind, arbeitsloser Vater oder das Hören lauter Musik konnten ein Grund sein, dass Familien getrennt wurden.“ Es könne auch heute noch geschehen. „Aber die Öffentlichkeit ist viel aufmerksamer geworden.“ Damals waren die Heime ein Teil der Gesellschaft und galten als praktisch unantastbar. Die Einrichtungen genossen einen guten Ruf.

Die Wertevorstellung hat sich verändert, Kinderrechte wurden gestärkt. Doch auch heute gibt es Fälle, die in den Medien für Erschrecken sorgen. „Zumindest ist es heute kein Tabu mehr, darüber zu sprechen und zu berichten.“ Wohlfarth fordert, dass man die Strukturen auch heute noch im Blick haben müsse. Die bestätigt Birgit Meyer, Professorin an der Hochschule Esslingen: „Alle fünf Minuten stirbt heute weltweit ein Kind durch körperliche Gewalt.“ Vor 60 Jahren war es noch schlimmer, denn die Kinder hatten keine Chance, sich zu wehren. Da gab es keine Vertrauenspersonen und andere schenkten den Kindern keinen Glauben. „Man wollte es nicht wahrhaben, es wurde verschwiegen“, entrüstet sich Wohlfarth. Joachim Bräunig von der Stiftung Jugendhilfe verdeutlichte: „Heute gibt es kaum noch zentrale Heime. Viele Kinder sind in Wohngruppen untergebracht und der Weg nach draußen ist offen.“ Ausbeutung, Strafe, Demütigung gehörten damals zum Alltag in den Heimen. Erst mit der Zeit begann die Aufarbeitung. Über 18 000 ehemalige Heimkinder meldeten sich bei regionalen Beratungsstellen. Bis heute erhielten 14 500 Betroffene finanzielle Leistungen aus einem Fonds. In Baden-Württemberg haben sich über 2400 gemeldet und knapp 1900 erhielten Unterstützung.

Allerdings sieht Meyer den Umgang mit Betroffenen kritisch: „Der Zeitraum ist bis 1975 begrenzt, es hat auch danach noch Verfehlungen gegeben. Die Höchstsumme der Auszahlung ist auf 10 000 Euro begrenzt und wer sich meldete, musste angeben, wofür das Geld verwendet werden sollte.“ Meyer spricht von der schwarzen Pädagogik in der frühen BRD. „Gewalt, Prügel, Zwang und Erniedrigung waren an der Tagesordnung. Das Machtgefälle beruhte auf der Rollenverteilung.“ Viel wurde unter den Tisch gekehrt oder Kinder trauten sich aus Scham nicht, sich zu wehren. Die Ausstellung soll diese Erlebnisse zeigen. Die Professorin relativiert: „Das Kloster Ettal stand lange im Interesse der Presse. Es gibt aber verschiedene Ettals. Einige Zeitzeugen berichten von der schönsten Zeit ihres Lebens und für andere war die Zeit in Ettal der blanke Horror.“

Peter Müller, Leiter des Staatsarchivs Ludwigsburg, machte deutlich, wie wichtig Archive sind: „Die Suche nach Unterlagen war umfangreich. Schwieriger war es, das Vertrauen zu Betroffenen aufzubauen.“ 1800 ehemalige Heimbewohner meldeten sich. „Wir müssen das Archiv bekannt machen. Vieles, was wir archiviert haben, dreht sich um Einzelschicksale. Wir müssen Daten zugänglich machen.“

Die Ausstellung wird durch den Beirat der Anlauf- und Beratungsstelle „Heimerziehung in der BRD in den Jahren 1949 bis 1975“ unterstützt. Sie ist bis zum 23. November, montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr im Theodor-Rothschild-Haus, Mülbergerstraße 146 in Esslingen zu sehen. Der Eintritt ist frei.

www.heimerziehung-bw.de