Quelle: Unbekannt

Von Markus Bauder, Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche Esslingen

Seit einigen Wochen steht auf meinem Schreibtisch eine Tonfigur. Ein Freund unserer Kirchengemeinde hat sie mir geschenkt. Sie ist aus der Gedenkstätte Grafeneck und steht für einen von fast 10 600 Menschen, die dort zwischen dem 18. Januar und 31. Dezember 1940 ermordet wurden. In den Herbstferien bot sich die Gelegenheit und ich bin mir meiner Frau dorthin gefahren. Es ist nicht weit von Esslingen. Gerade mal eine Stunde Fahrt. Auf der Schwäbischen Alb bei Gomadingen und Münsingen - inmitten der verträumten Ruhe grüner Hügel und Felder. Eine wunderschöne Landschaft.

In Grafeneck haben die Nazis im Süden des Reiches ihr „Euthanasie“-Programm umgesetzt. Behinderte und psychisch kranke Menschen wurden aus allen Teilen Süddeutschlands in grauen Bussen dorthin gebracht und systematisch vergast. Auch aus Kennenburg in Esslingen.

Wobei sich die Frage ja schon stellt, wer hier wirklich krank war. Die Täter oder die Opfer? Wie krank in Seele, Herz und Hirn muss man eigentlich sein, um diesen Gedanken zu denken oder gar in die Tat umzusetzen? Menschen aus Kostengründen umzubringen. Oder weil man dadurch Kräfte freibekommt. Kräfte wofür? Kräfte um Krieg führen zu können. Kann man alles im Dokumentationszentrum dort nachlesen. Sie haben allen Ernstes geglaubt, dort in der Beschaulichkeit der Schwäbischen Alb lässt sich so etwas heimlich tun. Wobei ich durchaus glaube, dass sich solches wiederholen kann. Man braucht nur in die Kriegsgebiete dieser Welt schauen, oder auf die grausame Handlungsweise des IS, oder manch gruselige Rhetorik gegenwärtiger Despoten.

In Grafeneck habe ich allerdings auch gedacht, dass das viel früher beginnt und wir Menschen sehr leicht auf Sündenböcke ansprechen. Wir messen mit unterschiedlichem Maß und teilen Menschen in Klassen ein, zum Beispiel bei der Krankenversicherung, der Rente oder der Sozialversicherung.

Die Gestalt auf meinem Schreibtisch erinnert mich täglich daran, dass sich solches nie wiederholen darf. Und dass ich alles dafür tun sollte, dass dies eben nicht wieder geschieht. Dass ich mich einsetzen muss für das Recht der Schwachen. Für die Rechte all derer, die die Starken unserer Gesellschaften gerne beiseite schieben, weil sie angeblich wenig oder keinen Nutzen haben und hohe Kosten verursachen.

Auch vor Gott sind alle Menschen gleich. Gleich wichtig. Gleich wertvoll. Völlig unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrem Geschlecht und der Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sie mitbringen. Es gibt kein unwertes Leben.

Die Idee des Projektes von Grafeneck ist, dass sich Besucher eine Tonfigur mitnehmen und ihr eine neue Heimat geben. Und so zu einer ständigen Erinnerung werden. Im Grunde zu einem ständigen Volkstrauertag. Zu einer Mahnung und Aufforderung: setz dich ein für das Leben und die Menschen.