Im Theodor-Rothschild-Haus leben Dolat, Khaled und Hanifullah (von links) in Sicherheit. Nach der Ablehnung ihrer Asylanträge stehen sie aber vor einer ungewissen Zukunft. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg

Kindern und Jugendlichen Chancen eröffnen, sie auf ihrem Weg zu einem eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Leben unterstützen - egal, welche Geschichte die jungen Menschen mitbringen: Das ist seit jeher das Ziel der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen im Theodor-Rothschild-Haus. So hat sich die Stiftung Jugendhilfe aktiv dann auch ganz selbstverständlich Khaled, Hanifullah, Dolat und anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen angenommen, die in Deutschland Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen (siehe Anhang). Und die drei Jungen aus Afghanistan haben das Angebot angenommen.

Seit ihrer Ankunft vor zwei Jahren haben sie so gut Deutsch gelernt, dass sie bereits jetzt den Hauptschulabschluss machen können. Nebenher haben sich Dolat, Khaled und Hanifullah mit Unterstützung von Rolf Beck, Eberhard Holder und Thomas Mery - die drei bilden im Rothschildhaus ein ehrenamtliches Berufsorientierungs-Team - auf dem Ausbildungsmarkt umgeschaut. Und auch da sieht es für die jungen Männer gut aus. So hat Dolat ein Praktikum in einer kleinen Esslinger Schreinerei gemacht. „Es ist ein sehr schöner Beruf“, sagt er. Auch der Inhaber der Schreinerei war von seinem engagierten Praktikanten begeistert. „Er möchte Dolat unbedingt als Lehrling haben“, berichtet Thomas Mery. „Denn Handwerk und Industrie suchen händeringend Leute.“

Mit Waffengewalt getrennt

Vor einigen Wochen ist für die drei inzwischen volljährigen Jugendlichen aber eine Welt zusammengebrochen: Ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Und es erging die Aufforderung, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Zwar haben sie Widerspruch eingelegt. Doch seit dem Bescheid bestimmt erneut Angst das Leben der drei jungen Geflüchteten - selbst wenn die Abschiebungen nach Afghanistan im Augenblick ausgesetzt sind. „Bei allen afghanischen Jugendlichen über 18 kommt relativ schnell eine Ablehnung des Asylantrags und ein Abschiebebescheid“, hat Dagmar Braun festgestellt. Die Bereichsleiterin im Theodor-Rothschild-Haus wundert sich, „dass die Begründung aber irgendwie immer gleich klingt“ - auch bei Khaled, der zwar afghanischer Herkunft ist, aber keinen Tag in dem Land verbracht hat. Er wurde als Sohn afghanischer Flüchtlinge im Iran geboren. „Meine Familie lebt seit 25 Jahren dort“, erzählt der 19-Jährige. Nachdem der Iran ihm seine Aufenthaltsgenehmigung entzogen hatte und er aufgefordert worden war, nach Syrien in den Krieg zu ziehen, hatte die Familie beschlossen, zu flüchten. An der iranisch-türkischen Grenze wurde die Familie aber mit Waffengewalt auseinandergerissen. „Meine Familie lebt jetzt illegal im Iran. Warum will man mich nach Afghanistan abschieben, wo ich noch nie war und niemanden kenne? Hier in Esslingen habe ich das Gefühl, eine Heimat zu finden.“

Aus der Bahn geworfen

Das Damoklesschwert der Abschiebung wirkt sich auf den Alltag in den Wohngruppen aus. „Wir beschäftigen uns zurzeit mit fast nichts anderem“, berichtet Ivonne Baars, die als Sozialpädagogin in einer Wohngruppe arbeitet. Zwar halten sich Hanifullah, Dolat und Khaled tapfer, büffeln für ihre Abschlussprüfung und bewerben sich auf Ausbildungsplätze. „Aber wir haben auch Jugendliche, die sich bereits stabilisiert hatten, durch das Asylverfahren aber wieder völlig aus der Bahn geworfen wurden“, schildert die Sozialpädagogin. „Durch ihre Flucht haben sie alle traumatische Erlebnisse, und bei uns leben auch Jugendliche mit sehr schwierigen psychiatrischen Diagnosen“, berichtet Dagmar Braun. Die Mädchen und Jungen brauchen Ruhe und Sicherheit sowie Zeit und Unterstützung. Doch in den Wohngruppen mache sich zuweilen Ohnmacht breit. „Es belastet unsere Mitarbeiter ungemein, denn wir empfinden das Vorgehen als großes Unrecht und ein menschliches Desaster, das einfach nicht zu unserem Menschenrechtsverständnis passt“, sagt die Bereichsleiterin.

Nach den ersten Abschiebebescheiden hat Jürgen Knodel, Regionalleiter der Stiftung Jugendhilfe aktiv, Verbindung mit politischen Entscheidungsträgern aufgenommen und ihnen klar gemacht, „was es aus pädagogischer Sicht bedeutet, einen Jugendlichen, der ja noch nicht fest im Leben steht, abzuschieben“. Bei seinen Gesprächspartnern hat er jedoch festgestellt, „dass ihnen dieses Problem wenig bewusst ist und sie auch kein Lösungskonzept haben“. Obwohl der Paritätische Wohlfahrtsverband bereits im Sommer 2015 „sowohl auf Bundesebene als auch hier in Baden-Württemberg darauf hingewiesen und Lösungsvorschläge gemacht hat“, sagt Rolf Beck.

Auf eigenen Beinen stehen

Dass man integrationswilligen Jugendlichen „den Stecker zieht“, dafür hat auch Oliver Erz, Sozialpädagoge in einer Wohngruppe der Stiftung Jugendhilfe aktiv, kein Verständnis. Um den Jugendlichen den Weg zu ebnen, hätten sowohl das Jugendamt, die Lehrkräfte an den Schulen, als auch die Profis der Jugendhilfe sowie die Ehrenamtlichen viel Energie investiert. „Und die Jungs haben ja voll mitgezogen und sind auf dem allerbesten Weg, wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft zu werden.“ So will auch Hanifullah schnell auf eigenen Beinen stehen: „Ich möchte nicht, dass mir zu viel geholfen wird. Ich will selbst für mich sorgen.“

Um die drohende Abschiebung von Khaled, Hanifullah und Dolat zu verhindern, „gibt es nur die Chance, dass sie eine Ausbildung beginnen“, sagt Rolf Beck. Denn durch das Integrationsgesetz gibt es seit vergangenem Jahr die Möglichkeit, eine Duldung für die Dauer einer Berufsausbildung zu erhalten. Mündet die Ausbildung in einen Arbeitsvertrag, ist es möglich, eine Aufenthaltserlaubnis für weitere zwei Jahre zu bekommen. „Ich bin kein Sozialromantiker und würde niemanden nur deshalb in eine Ausbildung vermitteln, damit er nicht abgeschoben wird“, sagt Rolf Beck, der früher selbst eine Firma geleitet hat. „Doch die drei haben großes Potenzial.“ So haben etwa Khaleds Lehrer ihm empfohlen, nach dem Hauptschulabschluss auf die Realschule zu gehen. „In Mathe ist er schon jetzt auf Abiturniveau“, erklärt Rolf Beck, der für Khaled eine Patenschaft übernommen hat.

„Geltende Gesetze anwenden“

Ohne Genehmigung der lokalen Ausländerbehörde läuft aber nichts. „Doch die Mühlen der Verwaltung mahlen bei uns viel zu langsam“, konstatiert Rolf Beck. „Selbst, wenn wir nur für ein Berufspraktikum einen Stempel brauchen, ist das schon extrem schwierig“, berichtet Thomas Mery. Er wundert sich, „dass das in anderen Städten und Landkreisen alles deutlich schneller und einfacher geht“. Ob fehlende Vorgaben und Richtlinien, zu wenig Personal in der Ausländerbehörde oder fehlendes Wissen „Hauptursache der scheinbaren oder tatsächlichen Willkür ist“, weiß Rolf Beck zwar nicht. Für ihn ist aber klar, „dass alle Beteiligten, vor allem natürlich die Entscheider in den Ämtern und Behörden, die geltenden Gesetze und Regeln kennen und natürlich auch anwenden müssen“. Da jede Bewilligung zur Hängepartie wird, läuft den ehrenamtlichen Berufsbegleitern die Zeit davon.

Dass die Anspannung, unter der die jungen Geflüchteten leben, für deren „Entwicklung überhaupt nicht förderlich ist“, stellt Jürgen Knodel immer wieder fest. „Auch für unsere pädagogische Arbeit brauchen wir Zeit und einen Hoffnungspegel.“ Nachdem die Abschiebungen nach Afghanistan auf unbestimmte Zeit ausgesetzt sind, „haben wir wenigstens Zeit gewonnen“, sagt der Regionalleiter. So keimt bei den Haupt- und Ehrenamtlichen im Theodor-Rothschild-Haus die Hoffnung auf, dass Khaled, Hanifullah und Dolat doch noch die Chance gegeben wird, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

Minderjährige auf der Flucht

Unbegleitete Flüchtlinge:Zurzeit kümmert sich das Team des Rothschild-Hauses um 85 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen kommt aus Afghanistan. Die zweitgrößte Gruppe stammt aus Syrien, gefolgt von Jugendlichen aus Somalia, Eritrea und dem Irak. Um für die geflüchteten Mädchen und Jungen ein neues Zuhause zu schaffen, hat die Stiftung Jugendhilfe aktiv zehn neue Wohngruppen gegründet, zwölf minderjährige Mädchen leben in einer eigenen Wohngruppe. Einige der unbegleiteten jungen Flüchtlinge wohnen in regulären Gruppen.

Ehrenamtliche: Da viele Esslingerinnen und Esslinger den geflüchteten Jugendlichen helfen wollen, wurde im Theodor-Rotschild-Haus eine Koordinationsstelle für Ehrenamtliche eingerichtet. Ziel ist es, Ehrenamtliche für die Arbeit mit jungen Geflüchteten zu gewinnen und die mitgebrachten Kenntnisse, Fähigkeiten sowie Interessen wirkungsvoll einzusetzen. Die Koordinationsstelle plant gemeinsam mit den Ehrenamtlichen erste Schritte, bahnt Kontakte an und unterstützt die Ehrenamtlichen in ihrer Tätigkeit. „Ohne die Ehrenamtlichen würden wir das nicht schaffen“, sagt Bereichsleiterin Dagmar Braun.

Unterstützung: Da die Asylverfahren Geld kosten, „sind wir neben der ehrenamtlichen Unterstützung über jede finanzielle Hilfe froh“, sagt Jürgen Knodel, Regionalleiter der Stiftung Jugendhilfe aktiv in Esslingen. Willkommen sei auch die Hilfe von Rechtsanwälten. Kontakt: juergen.knodel@jugendhilfe-aktiv.de

Jugendhilfe:Als Israelitisches Waisenheim wurde das heutige Theodor-Rothschild-Haus im Jahr 1913 in der Mülbergerstraße eröffnet. 1992 hat das Land Baden-Württemberg die Jugendhilfeeinrichtung an die Stiftung Wilhelmspflege in Plieningen übertragen. Seit 2006 ist das Theodor-Rothschild-Haus als Regionalbereich Esslingen Teil der Stiftung Jugendhilfe aktiv und heute eine Einrichtung der Jugendhilfe mit unterschiedlichen Förderangeboten im Bereich Bildung und Erziehung für Kinder, Jugendliche und deren Familien.