Bundeskanzlerin Angela Merkel. Foto: Kay Nietfeld Foto: DPA - Kay Nietfeld

Von Kristina Dunz

Berlin - Angela Merkel zieht die Augenbrauen zusammen, legt die Stirn in Falten, deutet so etwas an wie ein spöttisches Lächeln und schüttelt kurz den Kopf. Damit hat sie alles gesagt. Sie muss nicht mehr auf den bemühten Witz des neuen US-Präsidenten Donald Trump eingehen, er und sie hätten gemeinsam, dass Barack Obama beide habe abhören lassen. Trumps Kritiker jubeln. Für viele ist die Kanzlerin die letzte Hoffnung der freien Welt. An diesem 17. März, ihrem Antrittsbesuch beim neuen Mann im Weißen Haus, hat sie ihrem Ruf alle Ehre gemacht. Ohne Worte, nur mit Mimik.

Die Liste ihrer Titel ist lang: Kohls Mädchen, die Unterschätzte, die Wankelmütige, die Langweilige, Klimakanzlerin, Sphinx, Flüchtlingskanzlerin, Eiskönigin, Krisenkanzlerin, Wahlkampfmaschine, mächtigste Frau der Welt. Was stimmt? Vielleicht alles - oder ein bisschen oder jeweils zu seiner Zeit. Angela Merkel, Pfarrerstocher aus der DDR, promovierte Physikerin, hochbegabt und lange scheu, kaperte nach dem Mauerfall als Quereinsteigerin zuerst die von Männern dominierte CDU. Später eroberte sie als Kanzlerin die Bundesrepublik. Mit Ausdauer und Beharrlichkeit, Anpassungsfähigkeit und Härte, Zurückhaltung und Mut.

Seit zwölf Jahren, länger als alle anderen westlichen Regierungschefs, ist sie an der Macht. Dort könnte die 63-Jährige mit einem Wahlsieg am 24. September noch weitere vier Jahre bleiben. Dann hätte sie Rekordkanzler Helmut Kohl eingeholt. Für viele ist sie ein Faszinosum. Was bewegt ihr Innerstes? Wie hat das Amt sie verändert? Oder war, ist und bleibt sie einfach sie selbst?

Von Distanz und Misstrauen geprägt

Christina Schwarzer, CDU-Bundestagsabgeordnete, hat gerade ihre erste Wahlperiode hinter sich. Sie erinnert sich gut an einen Rat, den Merkel den Neulingen vor vier Jahren gegeben habe: „Vergessen Sie nie, wo Sie herkommen, und bleiben Sie immer authentisch.“

Merkel kommt eigentlich aus dem Westen, geboren am 17. Juli 1954 in Hamburg. Aber aufgewachsen ist sie im Osten, im autoritären Regime der DDR, das 1989/90 zusammenbrach. Distanz und Misstrauen haben sie geprägt - und sind bis heute bei ihr zu spüren. Die Eltern verließen Westdeutschland noch 1954 und gingen in die DDR. Es mangelte dort an Pfarrern, und ihr Vater, Horst Kasner, sollte als evangelischer Theologe in Brandenburg wirken. 1957 zogen sie nach Templin. Merkels Mutter, Herlind Kasner, ehemalige Latein- und Englischlehrerin, lebt noch heute dort.

Erika Benn, Merkels einstige Russischlehrerin, will eigentlich nichts mehr erzählen. Sie habe Journalisten schon alles gesagt über ihre Ausnahmeschülerin Angela. Und sie betont: „Ich würde nie die CDU wählen. Ich bin ja links - und fertig.“ Sie lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Templin und kritisiert die Rentenpolitik der Union. Es bleibe zu wenig übrig. Im Januar wird Benn 80. Und sie hat noch viel vor. Französisch lernen, Freundinnen in Polen besuchen.

Erst beobachten, dann handeln

Dann sprudelt es doch aus ihr heraus: „Wie habe ich sie wahrgenommen? Als Schülerin, die wollte und konnte, die fleißig war. Angela hat getan, was man ihr gesagt hat. Sie hat auch nie widersprochen“, sagt sie. „Die Mitschüler haben sie geachtet, weil sie alles wusste und konnte.“ Sie habe über den anderen gestanden. So wie heute.

Heute hält sich Merkel immer noch lange mit Entscheidungen zurück. Sie beobachtet ihr Umfeld erst einmal genau und schreitet dann zur Tat. Ganz authentisch.

Benn sagt, sie habe Merkel introvertiert in Erinnerung. Sie habe oft nur nach unten geschaut und selten gelächelt. Für die Russisch-Olympiade, die Merkel gewann, habe sie ihr geraten, freundlich zu gucken, weil sich das bei Auftritten so gehöre. Das ist bald 50 Jahre her. Beim Fernsehduell mit SPD-Herausforderer Martin Schulz habe sie das auch gemacht, bemerkt Benn zufrieden. Alte Schule eben.

Scheu ist Merkel heute allerdings nicht mehr. Aber Situationen wie das TV-Duell bereiten ihr trotzdem spürbar Unbehagen. Wie früher vor Prüfungen studiert sie akribisch Unterlagen und geht maximal vorbereitet in Auseinandersetzungen. So las sie vor ihrem Washington-Besuch im März sogar ein „Playboy“-Interview mit dem Immobilien-Milliardär Trump von 1990. Den Rest überlässt sie ihrem Instinkt. Heraus kam eine souverän wirkende Machtpolitikerin.

Nicht von jeher hartgesotten

Merkel selbst gibt schon seit Jahren kaum mehr preis, was sie bewegt. 1991 charakterisierte sie sich noch offenherzig. Sie war gerade Frauen- und Jugendministerin im Kabinett Kohl geworden. Der Fotografin Herlinde Koelbl sagte sie für deren Buch „Spuren der Macht“ damals: „Ich habe eine gewisse Art von Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen, obwohl ich auch nachgeben und mich mit Kompromissen abfinden kann. Außerdem habe ich einigermaßen gute Nerven und kann den Kräfteverschleiß bei einer so abrupten Karriere in Grenzen halten, obwohl ich längst noch nicht so hartgesotten bin, wie man das in der Politik wahrscheinlich auf Dauer sein muss.“

Die 63-Jährige ist sich in vielem treu geblieben. Sie hat alte Qualitäten bewahrt. Durchsetzungskraft, Kompromissbereitschaft, Nervenstärke. Aber mit zunehmender Macht kamen auch Veränderungen. Heute ist sie so hartgesotten, wie sie es damals nur bei anderen erlebte. Männer, die ihr im Wege standen oder ihr Posten streitig machen wollten, hat sie gnadenlos bekämpft oder auf andere Gleise gesetzt. Friedrich Merz, Roland Koch, Christian Wulff. Auf internationaler Bühne bietet sie schwierigsten Kalibern wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan die Stirn. Und zeigt sich dann auch immer wieder kompromissbereit.

Ihre Qualitäten als Wahlkämpferin stellt sie wieder am 6. September unter Beweis. Im nordsächsischen Torgau schlagen ihr Hasstiraden und Lärm von NPD und AfD entgegen. Merkel spricht lauter ins Mikrofon und zieht ihre Rede - Heiserkeit programmiert - durch. Ihre Botschaft: Genau der Staat, den NPD und AfD für so missraten halten, ermöglicht ihnen die risikolose Schreierei. Anderswo kämen sie gar nicht in Hörweite, sondern mitunter ins Gefängnis.

Ihr Privatleben kennen nur wenige

Sie selbst sagt, dass sie sich als Kanzlerin mit all den Herausforderungen auch wandeln müsse. Kehrtwende in der Atompolitik, bei der Wehrpflicht, Ehe für alle und auch in der Flüchtlingspolitik. Der Willkommenskultur folgte die Asylrechtsverschärfung.

Paul Ziemiak, Vorsitzender der Jungen Union, interpretiert sie so: „Angela Merkels Stärke ist, die Bürger besser aus einer großen Krise herauszuführen, als sie - beziehungsweise ihr Land - hineingeraten sind. Das war bei der Finanzkrise so, und das ist auch bei der Flüchtlingskrise so. Frau Merkel schafft es, die Dinge wieder zu ordnen, Widersprüche aufzulösen und Deutschland in Zeiten der Umbrüche positiv zu entwickeln.“

„Sie kennen mich“, hatte Merkel im vorigen Wahlkampf den Bürgern versichert. „Das gilt jetzt, vier Jahre später, noch viel mehr. Die Menschen setzen auf ihre unprätentiöse, ruhige und verlässliche Art“, sagt CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn. Er ist konservativer, provozierender und frecher, als Merkel es je sein könnte. Spahn, 37, will nach oben. Er hat Zeit. Aber stimmt es denn, dass die Bürger Merkel kennen? Politisch vielleicht. Ihr Privatleben, was sie denkt und fühlt, kennen wenige.

„Materielles interessiert sie nicht“

SPD-Chef Schulz hat die Kanzlerin jüngst als abgehoben und arrogant beschrieben. Gregor Gysi, Ikone der Linkspartei und wie Merkel aus der DDR, sagt dazu: „Schulz hat alles falsch gemacht. Wenn sie eines nicht ist, dann arrogant und abgehoben. Für eine Kanzlerin ist sie außergewöhnlich uneitel. Materielles interessiert sie nicht.“

Politisch jedoch habe sie weder eine Vision für Europa noch für Deutschland. „Deshalb verwaltet sie das Land nur. Und man kann auch nicht sagen, dass ihr Herz für den Osten schlägt. Das sieht man an der Rentenproblematik. Die Angleichung wurde auf 2025 verschoben.“ Findet Gysi etwas gut an Merkel? „Ihr zufälliges Lächeln. Das hat etwas Bestechendes.“ Und, dass sie von CDU-Männern lange unterschätzt wurde. Am Ende habe Merkel sie alle nach Hause geschickt.

Merkel war es, die als CDU-Generalsekretärin die Partei in der Spendenaffäre von ihrem Übervater Kohl emanzipierte. Als sie dann 2000 zur Parteichefin aufstieg, hatte kaum einer damit gerechnet, dass sie später auch das Kanzleramt erobern würde. Und wie Kohl 16 Jahre an der Macht bleiben könnte. Die damals unscheinbare Ost-Frau galt als gute Übergangslösung an der CDU-Spitze. Eben bis die Parteispendenaffäre überwunden sein würde. Weit gefehlt.

So wie es auch in anderer Hinsicht schwer fällt, Merkel klar einzuordnen. Die Öffentlichkeit erlebt die Kanzlerin meist als sehr beherrscht. Ihr Markenzeichen sind die zu einer Raute vor dem Bauch geformten Hände. So nimmt sie Haltung an. Im kleinen Kreis jedoch gilt sie als locker, witzig, selbstironisch. Politik betreibt sie gern per SMS. Sie twittert nicht, tippt aber fix Botschaften und Antworten in ihr Handy, wie manche jener Leute erzählen, die ihre Handy-Nummer haben. Viele sind das nicht. Laut Merkel etwa 100.

Immer einen Spruch auf den Lippen

In ihrem Umfeld schätze sie vor allem Harmonie, heißt es. Anders als ihr Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) stachele sie ihre Mitarbeiter nicht zu Konkurrenzkämpfen untereinander an. Sie setze auf ein gutes Arbeitsklima. Sie führe nicht durch Ausspielen und Aufhetzen. Manch einer empfindet sie aber auch als schwierig. Sie grüße oft nicht. Was allerdings an ihrer Kurzsichtigkeit liegen könnte beziehungsweise daran, dass sie keine Brille aufsetzt. Außer bei der Neujahrsansprache oder Länderspielen der Fußballnationalmannschaft.

Ihre eigenen Leute hat Merkel genau im Blick. Sie merke sich vieles, heißt es. Und sie habe immer einen Spruch auf den Lippen. Jemand erzählt, wie sie mit Merkel auf dem Weg zu einer Fraktionssitzung in einem vollen Aufzug im Bundestag standen. Mit dabei war der CDU-Abgeordnete Andreas Mattfeldt, bekannt für seine offene Haltung zur umstrittenen Förderung von Schiefergas. Mattfeldt habe in Anspielung auf das Gewicht der vielen Leute - und sein eigenes - gesagt, vielleicht sollte er mehr Jogging machen. Merkel habe das so kommentiert: „Ja, vielleicht mehr Jogging und weniger Fracking.“ Vor einem Jahr dann schien etwas zu kippen. Da ging Merkel vielen in der Partei auf den Geist. „Es war eine Phase der Bunker-Mentalität“, erzählt einer. Sie habe sich im Kanzleramt abgeschottet. So wie Kohl 1997. Ein Jahr später wurde er abgewählt. Es sei die Angst umgegangen, dass Merkel die falsche Person für den nächsten Wahlkampf sein könnte. Dass die Union untergehe. Aber Merkel verkündete im November ihre vierte Kandidatur und schloss die Reihen.

Wer traut sich nach Merkel?

Und wie geht es weiter, wenn Merkel die Wahl noch einmal gewinnt? Bleibt sie die vollen vier Jahre, wie sie versichert? Ein CDU-Regierungsmitglied sagt: „In der Regel wird man abgewählt. Dass man strahlend ausscheidet, ist selten.“ In dem Fall käme die nächste Generation der Union zum Zug, sagt ein anderer. Und nicht Männer und Frauen in Merkels näherem Umfeld. Es komme vor allem darauf an, wer sich überhaupt traue, nach Merkel anzutreten. Der Aufbau eines Nachfolgers sei in der Politik nicht einfach, sagt jemand anderes. Merkel führe ja kein Unternehmen und ernenne keinen Kronprinzen.

Merkel selbst habe keine Angst vor dem Leben danach. Sie wolle aber kein Chaos hinterlassen. Deshalb habe sie auch nicht aufhören können, bevor die Flüchtlingskrise wirklich überwunden ist. Dass Merkel im Falle ihrer Wiederwahl auch noch zum fünften Mal im Jahr 2021 antritt, können und wollen sich viele in der Union nicht vorstellen.

Erika Benn ist auf dem Sprung. Sie muss Koffer packen. Morgen fährt sie nach Polen. „Und wenn ich wiederkomme, wird die Angela überragend die Wahl gewonnen haben. Und soll ich Ihnen was sagen: Sie ist ja noch jung. Das wird nicht ihre letzte Legislaturperiode sein. Irgendwann muss man aber wissen, wann man aufhören müsste.“