Stuttgart (lsw) - In der Hilfe für behinderte Menschen steht ein Paradigmenwechsel an: Das neue Teilhabegesetz soll Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen ermöglichen, mehr Mitsprache und daraus folgend maßgeschneiderte Unterstützungsangebote zu erhalten.

„Künftig werden die Bedarfe, Fähigkeiten und Einschränkungen jedes Einzelnen genau angeschaut - daraus ergibt sich dann der jeweilige Hilfe- und Unterstützungsbedarf“, erläuterte Sozialminister Manne Lucha (Grüne) gestern in Stuttgart. „Niemand soll durchs Raster fallen.“ Lucha hatte zuvor im Kabinett das geplante Gesetz zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vorgestellt, das auf der UN-Behindertenrechtskonvention fußt. Der Anhörungsentwurf soll breit diskutiert werden - auch von Behindertenverbänden. Im Südwesten sind rund 80 000 Menschen mit Behinderung von der Neuregelung betroffen, die ihnen ein möglichst selbstständiges Leben gewähren soll. Träger der Eingliederungshilfe sind weiterhin die Land- und Stadtkreise. Sie werden aber ergänzt durch eine unabhängige Teilhabeberatung, die den behinderten Menschen dabei zur Seite steht, eigene Vorstellungen über ihren Hilfebedarf zu entwickeln. Derzeit liegen laut Sozialministerium 91 Anträge zur Bildung solcher Beratungsstellen vor, etwa von Selbsthilfegruppen.

Bei einer solchen Beratung kann es etwa darum gehen, wie die Menschen wohnen wollen, sie sich fortbewegen möchten und welcher Tätigkeit sie nachgehen wollen - und welche Assistenzleistungen sie dafür brauchen. Ein auf Baden-Württemberg angepasster Kriterienkatalog soll den Mitarbeitern in den Landratsämtern und Verwaltungen der Stadtkreise erleichtern, die Fähigkeiten und Defizite von behinderten Menschen mit den Hilfen in Einklang zu bringen.

Minister kontert Landkreisen

Den Landkreisen, die sich vom Land in den kommenden beiden Jahren finanziell im Stich gelassen fühlen, las Lucha die Leviten. Er sei angesichts der reflexhaften Forderung der Kommunen „angefressen“. Die Zahlen der Kommunen entbehrten jeglicher Grundlage. Die Landkreise hatten Mehrkosten von 68 Millionen Euro 2018 und 99,5 Millionen Euro für das darauf folgende Jahr geltend gemacht. Das Land zahlt in dem Zeitraum auf freiwilliger Basis rund 22 Millionen Euro. Der Städtetag schloss sich der Forderung der Landkreise an. Der Minister konterte, auch bei Kommunen sei nicht immer Gold, was glänze: Es gebe Beschwerden von Behinderten über vorenthaltene Leistungen. Die SPD-Abgeordnete Sabine Wölfle mahnte die Koalition, das Gesetz nicht zum Großteil zu Lasten der Kommunen umzusetzen. Finanzfragen müsse man in der Anhörung diskutieren.

Anfang dieses Jahres trat bereits die erste Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft, die eine weniger strikte Berücksichtigung des Einkommens und Vermögens der Betroffenen vorsieht. Die neue Bedarfsermittlung und Teilhabeberatung werden im kommenden Jahr umgesetzt, gefolgt von zwei weiteren Reformstufen bis 2023.

Menschen mit Behinderung im Südwesten

In Baden-Württemberg leben derzeit mehr als 80 000 Menschen mit Behinderung. Laut Statistischem Landesamt bezogen im vergangenen Jahr 81 166 Menschen Eingliederungshilfe. Das waren zwei Prozent mehr als im Vorjahr. Davon waren 60 Prozent Männer mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren. Die Frauen waren mit durchschnittlich 35,5 Jahren etwas älter.

70,6 Prozent der behinderten Menschen lebten in Einrichtungen. Bei deren Hilfeleistungen handelte es sich vor allem um Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen sowie um Hilfen zum selbstbestimmten Leben in einer Wohneinrichtung. 10 074 behinderte junge Menschen in Einrichtungen bekamen im Laufe des Jahres Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung.

Bei den Hilfeleistungen für behinderte Menschen außerhalb von Einrichtungen stand das selbstbestimmte Leben im Vordergrund. 15 000 Menschen erhielten Hilfen in ambulant betreuten Wohnmöglichkeiten. 7500 behinderte Kinder, die nicht in Einrichtungen lebten, erhielten Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung.

Sozialminister Manne Lucha (Grüne) schilderte die Entwicklung in der Gesellschaft beim Umgang mit behinderten Menschen. Während der NS-Herrschaft seien sie ermordet worden, was das geringe Durchschnittsalter der Bevölkerungsgruppe heute erklärt. Nach dem Krieg stand die Fürsorge im Mittelpunkt. Darauf folgten Beschäftigung und Schulbildung. Jetzt seien Selbstbestimmung, Teilhabe und Mitwirkung der behinderten Menschen der Maßstab.