Quelle: Unbekannt

Dass beide Partner auch nach vielen gemeinsamen Jahren ihre Eigenheiten ­pflegen, ist normal. Mit dem Ergebnis der badischen Volksabstimmung von 1970 war eine Trennung ­endgültig vom Tisch. Eine knappe Mehrheit der Badener stimmte 1951 ­gegen die Bildung eines ­Südweststaats. In Südbaden fürchtete man sich vor einer württem­bergisch-protestantischen Dominanz.

Von Thomas Krazeisen

Baden-Württemberg wird 65 - oder besser gesagt: feiert Eiserne Hochzeit. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich die komplizierte Anbahnung dieser sehr speziellen Länder-Ehe zweier in vielem ungleichen, ja gegensätzlichen Partner in Erinnerung ruft. Die Idee eines Zusammenschlusses von Baden und Württemberg war jedoch nicht neu, sie war schon im 19. Jahrhundert aufgekommen. Die Realisierung des Projekts nach 1945 glich dann allerdings eher einer arrangierten Ehe, es war jedenfalls alles andere als eine Liebesheirat. Doch es sollte, wie sich schon nach wenigen Jahren abzeichnete, eine sehr erfolgreiche Vernunftehe werden. Vor 65 Jahren, am 25. April 1952, wurde der Bund für ein alles in allem harmonisches Zusammenleben in einer hochemotionalen Zeremonie in Stuttgart geschlossen. Bis sich die Gemüter einigermaßen abkühlten und die Partner über einen gemeinsamen Namen einig wurden, sollte es dann noch einmal mehr als ein Jahr dauern.

Baden-Württemberg besteht im Ländervergleich den Leistungs-Check noch immer locker und ist - übersieht man einmal großzügig die jüngsten Pisa-Ergebnisse - seit vielen Jahren auf den Bildungs-, Forschungs- und Technologie-Feldern regelmäßig auf den Spitzenplätzen zu finden. Und kulturell sowieso. Stuttgart wurde wieder einmal zur Nummer eins unter Deutschlands Kulturmetropolen gewählt. Man macht aber seit ehedem, gut schwäbisch, nicht viel Aufhebens um sich und seine Erfolge. Dieser Hang zum Understatement, der freilich nicht überall in der Republik gut ankommt, lässt sich bereits sprachlich an der Verkleinerungsendsilbe „-le“ festmachen. Beim Prädikat „Musterländle“ handelt es sich aber wohl nicht, wie man meinen könnte, um eine typische württembergische Schöpfung, sondern um eine badische Auszeichnung. Im Zeitalter des Liberalismus und der Industrialisierung hatte Baden nämlich mit seiner auch klimatisch begünstigten Landschaft und ihren fruchtbaren vulkanischen Böden ökonomisch und infrastrukturell die Nase noch vorn. Erst durch den Ersten Weltkrieg und seine wirtschaftlichen Folgen veränderte sich die Situation zugunsten Württembergs. So wurde es letztlich eine Win-win-Situation, die Badener und Württemberger zu „ziemlich besten Freunden“ hat werden lassen. Dass beide Partner auch nach so vielen gemeinsamen Jahren ihre Eigenheiten, Moden, Rituale und, ja, auch ihre gegenseitigen Vorurteile pflegen, ist normal und in einer staatsrechtlichen Ehe nicht anders als in einer bürgerlichen.

Angefangen hatte alles unter schwierigen Bedingungen. Nach 1945 erfolgte der Aufbau des politischen Lebens in Deutschland ziemlich willkürlich und nicht den kultur- und territorialgeschichtlichen Linien entlang. Die Amerikaner sicherten sich den ökonomisch attraktiveren Norden von Württemberg und Baden mit den Städten Stuttgart, Karlsruhe, Mannheim und Heilbronn, die Franzosen bekamen den Süden Württembergs und Hohenzollern mit der Hauptstadt Tübingen sowie Südbaden mit der Hauptstadt Freiburg. Die Grenze zwischen den unter amerikanischer und französischer Kuratel stehenden Zonen verlief, historisch wenig sensibel, von West nach Ost, der Autobahn Karlsruhe-Ulm entlang mitten durch historisch gewachsene Gebiete, Infrastrukturen und Dialektlandschaften.

Während im „amerikanischen“ Norden, in Württemberg-Baden also, schon früh die Weichen in Richtung Südweststaat gestellt wurden und auch die Regierung von Württemberg-Hohenzollern unter dem oberschwäbischen Christdemokraten Gebhard Müller sich mit dieser Option anfreunden konnte, versperrte sich die Freiburger Fraktion unter Leo Wohleb beharrlich dem Projekt. Für den „badischen Löwen“, der für sich in Anspruch nahm, auch für Nordbaden zu sprechen, war die Wiederherstellung der alten Länder, also von Baden und Württemberg, die geschichtlich naheliegende Lösung. Am Kaiserstuhl fürchtete man sich vor einer schwäbischen „Kolonialisierung“, einer württembergisch-protestantischen Dominanz.

In dieser verfahrenen Situation lud der Stuttgarter Staatspräsident Reinhold Maier Anfang August 1948 zum „Dreiländergipfel“ auf den Hohenneuffen. Bei dem legendären Treffen hat der „schwäbische Fuchs“ Maier angeblich extra viel „Täleswein“ auffahren lassen - vielleicht hätte man besser badischen Burgunder kredenzt. Jedenfalls kam man sich in den zentralen Fragen nicht wirklich näher. Andererseits drängte die Zeit. Eigentlich sollte der „Kampf um den Südweststaat“ rasch entschieden werden - noch vor der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949. Doch am Ende dauerte die Auseinandersetzung deutlich länger.

Um sich das Heft des Handelns nicht durch den Bund aus der Hand nehmen lassen zu müssen, brachten Maier und Müller in letzter Minute über den Tübinger Ministerialrat und späteren Staatsrechtler Theodor Eschenburg erfolgreich eine Sonderregelung für den Südwesten ins Spiel, gemäß der eine Neugliederung des Südwestens abweichend von dem im Grundgesetz-Artikel 29 festgelegten, recht komplizierten Verfahren durch eine freiwillige Vereinbarung der drei beteiligten Länder erfolgen könne. Damit war verfassungspolitisch der Weg frei für eine souveräne Entscheidung.

Doch diesen Spielraum vermochten die Beteiligten zunächst nicht zu nutzen, nachdem Südbaden seinen Widerstand aufrecht erhielt. So musste am Ende doch der Umweg über Bonn beschritten werden, um zu einer Lösung zu kommen. Der Bundestag verabschiedete im April 1951 ein zweites Neugliederungsgesetz auf Basis des Artikels 118. Es legte die von Theo Wohleb vehement bekämpfte Durchzählung in den vier Stimmbezirken Nordbaden, Südbaden, Nordwürttemberg sowie Südwürttemberg mit Hohenzollern fest; für das Zustandekommen des Südweststaats musste in drei der vier Stimmbezirke eine Mehrheit für den Zusammenschluss votieren. Beim Volksentscheid am 9. Dezember 1951 stimmten knapp 70 Prozent der Wähler für den Südweststaat. Die altbadische Hochburg der Gegner im Süden wurde schließlich geschleift.

Doch auch bei den Siegern blieben Blessuren zurück. Dass mit der faktischen Übergehung des mehrheitlichen Willens der Badener die Rechtsprechung ziemlich strapaziert wurde, mussten hinterher Juristen wie Politiker einräumen. Denn in den beiden badischen Stimmbezirken zusammengenommen hatte eine knappe Mehrheit gegen die Südweststaatsbildung gestimmt.

Der Vorwurf der Widerrechtlichkeit tauchte auch nach der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung im Frühjahr 1952 auf, als im letzten Akt des Südweststaat-Dramas der Liberale Reinhold Maier einen Coup landete. Die CDU war aus der Vereinigungswahl als stärkste Partei hervorgegangen. Die Sondierungsgespräche mit der SPD und der FDP gerieten aber nicht zuletzt in der Frage eines konfessionsgebundenen Schulsystems ins Stocken. Am 25. April 1952 düpierte Maier dann den Wahlsieger, als er mit den Stimmen der FDP/DVP, der SPD und der Partei der Heimatvertriebenen (BHE) zum Ministerpräsidenten des neuen Südweststaats gewählt wurde. Die CDU um Wahlsieger Gebhard Müller fand sich in der Opposition wieder. Es war genau 12.30 Uhr, als Maier am Rednerpult einer tumultuarisch endenden Verfassunggebenden Versammlung im damaligen Parlamentsgebäude von Württemberg-Baden in der Heusteigstraße 45 in Stuttgart den Zeitpunkt der Bildung der vorläufigen Regierung feststellte. Die Erklärung zur handstreichartigen Gründungsaktion beschloss er mit den Worten: „Gott schütze das neue Bundesland…“

Trotz aller gegenseitigen Verletzungen, Enttäuschungen im Vorfeld und unübersehbaren Schönheitsfehler bei der offiziellen „Vermählung“: Die Vernunftehe zwischen Badenern und Württembergern funktionierte von Anfang an erstaunlich gut - so gut, dass beim rein badischen „Stresstest“, der Volksabstimmung im Sommer 1970, sich eine deutliche Mehrheit für den Status quo, also gegen eine Rückkehr zu den Ländern Baden und Württemberg aussprach. Ein „Badexit“ war damit endgültig vom Tisch. Das war dann doch angesichts der hartnäckigen Agitationen der altbadischen Fraktion um Leo Wohleb eine Überraschung - und eine Art verspätete Liebeserklärung an den größeren Partner Württemberg.

Nicht zuletzt dessen Zurückhaltung bei der Wahl des gemeinsamen Namens mag hier eine Rolle gespielt haben. Auch um ihn wurde intensiv gerungen. Dabei zeigte sich, dass es jenseits der bei der Neugliederung zur Disposition stehenden Länder Baden und Württemberg, die wie das preußische Hohenzollern immerhin über mehr als ein Jahrhundert hinweg bestanden hatten, ältere territoriale Konstellationen gab, die Land und Leute nachhaltig geprägt haben. Diskutiert wurden unter anderem die auf mittelalterliche Traditionen zurückweisenden Namen Schwaben, Rhein-Schwaben, Staufen und Alemannien. Sie erinnern daran, dass es kreuz und quer zur badisch-württembergischen Nord-Süd-Grenze verlaufende ältere herrschaftspolitische, sprachliche und kulturelle Verbindungsmuster gibt. Einheit stiftete und stiftet in dem vor Napoleons Flurbereinigung über Jahrhunderte hinweg zersplitterten südwestdeutschen Raum stets die Vielfalt. Auch als typisches Einwanderungsland setzte der neue Südweststaat im Grunde genommen nur diese Tradition fort. Heute kann Baden-Württemberg nicht ohne Stolz sein in Würde gealtertes multikulturelles Gesicht vorzeigen. Hier hat man von Anfang an das Schicksal eines Einwanderungslandes als Chance begriffen - und genutzt.

Gibt es eine baden-württembergische Identität? Auch in dieser Frage scheint man, wie im echten Eheleben, die Dinge nach 65 gemeinsamen Jahren gelassener zu sehen - sie sind in einer globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt ohnehin mehr denn je in Bewegung. Heute vermögen die kleinräumigeren Bezüge zu Regionen und Kommunen, aber auch zu neu entstandenen Wirtschaftsräumen im Zweifelsfall konkretere Zugehörigkeitsgefühle zu wecken als ein von oben verordnetes baden-württembergisches „Wir-Gefühl“, das sich vielleicht am ehesten regt, wenn es um konkrete finanzielle Belastungen etwa durch den Länderfinanzausgleich geht.

Dass im baden-württembergischen „Vielvölkerorganismus“ das regionale und subregionale Nervensystem auch mit 65 noch sehr empfindlich reagiert, zeigte erst vor wenigen Wochen die Empörung, die der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann mit seiner Bemerkung hervorgerufen hatte, man könne, wenn in Stuttgart Fahrverbote drohten, alte Dieselfahrzeuge ja immer noch nach Nordbaden oder Südwürttemberg verkaufen. Mit seinen Beispielen hat der grüne Minister, der die heftigen Reaktionen anschließend als „Pseudo-Debatten“ abtat, offenkundig einen noch sehr empfindlichen Nerv getroffen. Da waren sie wieder, die alten Ängste vor einem Stuttgarter „Imperialismus“. Sie verbinden offenbar nach wie vor Badener und Württemberger mit wachsender räumlicher Distanz zur Landeshauptstadt. Die Sensibilität gegenüber schwäbischen „Direktorenallüren“ und jedwede Art von Zentralismus gehört ganz bestimmt, wenn es sie denn gibt, zur DNA Baden-Württembergs.