Die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts war eine bewegte Zeit in der Musikgeschichte. Einerseits beherrschten niederländische Komponisten mit ihrer komplizierten Polyphonie europaweit die Szene. Andererseits bahnte sich in Italien eine neue Ästhetik an: eine sprachnahe Musik der expressiv vertonten Sinn- und Empfindungsgehalte, der Vereinfachung der „abstrakten“ Kontrapunktik zum Zweck des unmittelbaren, emotional berührenden Ausdrucks. Der venezianische Komponist Andrea Gabrieli, Onkel des berühmten Giovanni Gabrieli, wirkte mitten in diesen Spannungsfeldern, die nach seinem Tod 1585 endgültig eine „moderne Musik“ mit heute selbstverständlichen Techniken hervorbrachten: etwa die Unterscheidung von Solostimmen und Begleitung oder den gezielten Einsatz von Klangfarben.

Die Motetten aus Andrea Gabrielis Sammlung „Sacrae cantiones“, 1565 im Druck erschienen, zeugen von der Dynamik jenes Epochenwandels. Sie dokumentieren die Beherrschung altmeisterlich-kontrapunktischen Handwerks ebenso wie die Öffnung zu einer neuen Tonsprache melodischer Schönheit, klangbildlicher Sinnlichkeit und gelichteter Polyphonie.

Wilfried Rombach und sein Tübinger Ensemble Officium, spezialisiert auf Musik der Renaissance und bereits mit etlichen viel gelobten Aufnahmen hervorgetreten, interpretieren auf ihrer neuen CD eine Auswahl aus den „Sacrae Cantiones“ quasi auf dem Weg zu jener neuen Musik. Dazu ziehen sie alle Register der historischen Aufführungs- und Besetzungspraxis. Gabrielis notierte A-cappella-Sätze werden, wie damals üblich, teils vokal, teils instrumental, teils in einer Kombination musiziert. Dadurch entfaltet diese Musik vielfältige und differenzierte Farben, welche auf künftige Klangkünste vorausweisen. Und nicht nur das. Die Motette „Laudate Dominum omnes gentes“ etwa erklingt in zwei rein instrumentalen Versionen: zunächst sonor und transparent von Bläsern gespielt, dann - in doppelt so langsamem Tempo - mit Orgel und improvisierten Verzierungen in der Oberstimme, wunderbar beweglich und balsamisch geblasen von Friederike Otto auf dem Zink, jenem alten Zwitter aus Trompete und Holzblasinstrument. So kündet sich hier bereits der konzertante Stil des Barock an - als eine Möglichkeit der originalen Aufführungspraxis. Ebenso weisen die vokal-instrumentalen Mischbesetzungen etwa in „Verba mea auribus“ auf das spätere Geistliche Konzert voraus.

Doch nicht nur durch die Wahl der Besetzung erwecken Rombach und sein Ensemble Gabrielis Zukunftsmusik zum Leben, sondern auch durch einen schlackenlos reinen, fein fließenden, die Klangrhetorik markant, aber unforciert akzentuierenden Vokalklang. Wenn sich etwa am Ende der Marienmotette „Sancta et immaculata“ die beiden Sopranstimmen in geradezu körperhafter Sinnlichkeit ineinanderschmiegen, ist das ein wahrhaft seraphischer Moment. Und im zehnstimmigen „Laudate Dominum in sanctis eius“, einem späteren, nicht aus den „Sacrae Cantiones“ stammenden Werk, wird die grandiose venezianische Mehrchörigkeit in aller tönenden Pracht entfaltet. Martin Mezger

Andrea Gabrieli: Motetten aus der Sammlung „Sacrae Cantiones“. Ensemble Officium, Leitung: Wilfried Rombach. Christophorus Records (CHR 77390). Vertrieb: Note 1.