Nicht nur der Messie, der in der Seniorenresidenz wohnt, auch das Akkordeon ist von Hand genäht. Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg (Text) und Klaus Franke (Fotos)

Sie trinken am liebsten „Veuve Tricot“, den Schampus „mit dem fusseligen Abgang“, rauchen was das Zeug hält und schwingen - der Herr im Frack hat sich keck eine Rose zwischen die Zähne geklemmt - zur Musik aus den 20er-Jahren munter das Tanzbein. Das Entrée der „Seniorenresidenz Eyachfrieden“ gleicht eher einem Ballsaal denn einem Altersheim. So ist auch der Rollator, mit dem die Besucherinnen und Besucher des Privatmuseums eine Runde drehen können, von Rosen umrankt - natürlich aus Stoff. Erschaffen hat diese fanastische, schrille Welt eine Frau, die schon als Kind am liebsten mit glitzernden Stofffetzen, Stecknadeln mit bunten Glasköpfen und Fellstücken gespielt hat. „Das Weiche ist einfach etwas Wunderbares, was man unbedingt anfassen möchte“ sagt Alraune, die vor 62 Jahren in Tübingen das Licht der Welt erblickt und als Schülerin viel Zeit in den Traditionscafés der Unistadt verbracht hat. „Viele der Stammgäste haben mich sehr fasziniert.“ Deren Aura taucht in ihren handgenähten Kunst-Menschen auf, die seit 2014 das ehemalige Restaurant Schwanen in Haigerloch bevölkern.

Nach der Schule hat die Tübingerin am Technikum für Textilindustrie in Reutlingen eine Ausbildung zur Textildesignerin absolviert. „Was ich heute mache, hat aber nichts mit meiner Ausbildung zu tun. Denn beim Textildesign geht es in erster Linie um Muster.“ Ihre ersten lebensgroßen Figuren hat Alraune 1981 genäht. Bald wurden Museen, aber auch Organisatoren von Messen sowie Kaufhäuser auf die „Soft Art“ aufmerksam. Für das KaDeWe in Berlin, das Jelmoli in Zürich, das Liberty in London und viele andere Einkaufstempel gestaltete sie Kunst-Schaufenster, ihn denen sie komplette Szenerien präsentierte und damit kleine Geschichten erzählte.

Im Laufe der Jahre ernähte sich die Künstlerin, die Stammgast auf Flohmärkten ist und kaum einen Stoffladen links liegen lassen kann, einen riesigen Fundus. Der reicht vom barock anmutenden Tortenbuffet, das einem jetzt in ihrem Privatmuseum das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, über Zigarettenkippen, an denen Lippenstift klebt, bis hin zu Messern, Fischen, Würsten und Schweinsköpfen, die die Besucher der Seniorenresidenz von einem mit Spinnweben überspannten Buffet der Erinnerungen aus anstarren.

Sie werde oft gefragt, woher sie die Schnitte für ihre Figuren und Arrangements hat. Doch es gibt keine Vorlagen oder Masken. „Alles kommt aus mir selbst. Die Ideen sind ständig da, auch nachts. Und manchmal sind sie erdrückend“, sagt die Künstlerin, die nur große Strecken mit der Maschine näht und bei der Arbeit keine Stunden zählt. „Es ist völlig egal, wie lange etwas dauert. Die Hauptsache ist, dass das Wesentliche ausgedrückt wird.“ So werden die Figuren je nach Thema der Schau nicht nur in jeder Saison in neue Kleider gehüllt. Die Künstlerin gestaltet die aus feinem Trikotstoff genähten Gesichter immer wieder um. „Ich kann auch aus einem Mann eine Frau machen“ - und aus Angela Merkel Alraune. „Wie im Theater ist alles ständig im Fluss, nur dass sich meine Figuren nicht bewegen.“ Miss Marple - sie hat in der Seniorenresidenz am Eyachufer ebenso ein neues Zuhause gefunden, wie der Alte Fritz sowie Miss Sophie samt Butler James und dem zum Bettvorleger erstarrten Tiger - ist allerdings tabu. „Denn die ist mir besonders gut gelungen.“

Um „nicht mehr so gefällig sein zu müssen“, verlegte Stefanie Siebert ihr Wirken immer mehr von den Auftragsarbeiten in den musealen Bereich. „Da konnte ich dann auch schrillere Sachen machen“, sagt die Künstlerin, die ihren Hang zum Glitzer und zur großen Pose nicht verhehlen kann. 2007 zog es Alraune und ihren Mann Hans Siebert ins Ostseebad Barth, wo sie Ausstellungsprojekte wie „Hochzeit im Kloster“, das „Grand Hotel zum Barther Mops“ oder die „Haute Couture der feinen Küche“ präsentierte - eine Modenschau, bei der die lebensgroßen Figuren mit Delikatessen kostümiert über den Laufsteg schwebten.

Vor vier Jahren packte das Ehepaar alle Kunst-Menschen und sämtliche Ausstattungsgegenstände wieder ein, zog zurück ins Schwabenland und kaufte das historische Gasthaus am Haigerlocher Marktplatz. In ihrem eigenen Ausstellungshaus kann sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen und sich zu den einzelnen Szenen und Arrangements immer wieder neue schräge Kurzgeschichten ausdenken. So witzig manche Szene auf den ersten Blick auch daher kommt: Die heile Welt ist nicht Alraunes Ding. „Ich suche mir gerne schwierige Themen raus und blicke auch in Abgründe“, erklärt die Künstlerin. „Alles, was man hier sieht, ist eine Verkörperung meiner Persönlichkeit.“ So setzt sie sich in ihrer aktuellen Ausstellung mit der Frage auseinander, „wie es mit mir im Alter weitergeht“. Nimmt sie sich ihre Kunst-Menschen zum Vorbild, braucht es Alraune nicht bange zu sein. Trotz des einen oder anderen Zipperleins haben die sich für Party statt Siechtum entschieden.

Die Ausstellung „Seniorenresidenz Eyachfrieden“ kann man noch bis einschließlich 31. Oktober besuchen. Das Privatmuseum Alraune im ehemaligen Gasthaus Schwanen am Haigerlocher Marktplatz hat donnerstags bis sonntags sowie an allen Feiertagen von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Für Gruppen ab 18 Personen ist bei vorheriger Anmeldung (E-Mail: hanssiebert@t-online.de) auch ein früherer Einlass möglich. Kinder bis sechs Jahre zahlen keinen Eintritt, für Erwachsene kostet der Einritt acht, für Sechs- bis 14-Jährige vier Euro.

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