In den Gesprächen, die Silke Unrath – Sozialpädagogin und Beraterin bei Wildwasser – Frauen nach einem sexuellen Übergriff anbietet, stehen der Schutz und die Stabilisierung der Opfer im Vordergrund. Foto: Bulgrin - Bulgrin

Die Beratungsstelle von Wildwasser unterstützt Frauen, die Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind.

Esslingen Dass die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey das Thema körperliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen auf die oberste politische Ebene gehievt und ein bundesweites Hilfetelefon installiert hat, ist für den Esslinger Verein Wildwasser ein wichtiger Schritt. „Es ist gut, dass das Thema sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene ganz oben angekommen ist und es auch Empfehlungen für den Aufbau von Hilfenetzwerken gibt“, sagt Martina Huck, Sozialarbeiterin und Geschäftsführerin von Wildwasser. Doch das allein hilft Frauen, die in Esslingen Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind, nicht weiter. Denn für erwachsene Betroffene gibt es kein öffentlich finanziertes Beratungsangebot – weder in der Stadt, noch im Landkreis. „Die Beratung wird, salopp gesagt, wohl als Hobby des Vereins angesehen, das wir halt irgendwie mitfinanzieren müssen.“ Dabei ist die finanzielle Situation der Fachberatungsstelle ohnehin angespannt. „Ohne Spenden wären wir aufgeschmissen“, erklärt die Geschäftsführerin. Damit der Verein sein Beratungs- und Hilfsangebot auf eine solidere finanzielle Basis stellen kann, wird Wildwasser im Rahmen der aktuellen EZ-Weihnachtsaktion durch Spenden der Leserinnen und Leser der Eßlinger Zeitung unterstützt. „Dafür sind wir ungeheuer dankbar“, sagt Bettina Huck.

Sei es in der Kneipe, der Disco, bei Partys, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis oder in der Partnerschaft: Sexualisierte Gewalt ist allgegenwärtig. In der Wildwasser-Beratungsstelle suchen aber nicht nur Frauen Rat und Hilfe, weil sie nach einem Übergriff nicht mehr schlafen können, schreckhaft sind, unter Angstzuständen leiden. „Es kommen auch immer mehr Männer zu uns“, berichtet Claudia Weist-Brockhaus, Systemische Therapeutin und bei Wildwasser für die Traumatherapie zuständig. „Es ist uns ein großes Anliegen, dass wir auch ihnen helfen können.“ Oft sei ein aktueller sexueller Übergriff Anlass, sich an die Beratungsstelle zu wenden. „Da brechen dann Erlebnisse von früher wieder auf“, erklärt sie. So hätten viele der Männer, die sich in der Beratungsstelle Hilfe holen, „in ihrer Kindheit und Jugend, zum Beispiel im Bereich der Heimerziehung, sexualisierte Gewalt erlebt“.

Bei Wildwasser steht zunächst die Stabilisierung und der Schutz der Opfer im Fokus. „Wir reden mit ihnen darüber, wie sie in ihrem Leben Sicherheit wiederherstellen können, und stellen verschiedene Methoden aus der Traumatherapie vor“, erläutert Martina Huck. Diese sollen dabei helfen, dass sich die Opfer nach der traumatischen Erfahrung wieder stabilisieren können. Neben der Ersthilfe und Orientierung sowie Einzeltraumatherapien nach gravierenden sexuellen Übergriffen bietet Wildwasser eine Gruppe an, in der sich traumatisierte Frauen alle zwei Wochen treffen können.

Dass das Team der Beratungsstelle durch seine Arbeit im Kinderschutz über ein großes Netzwerk verfügt, zu dem sowohl Opferanwälte, als auch psychologische Beratungsstellen, die Kriminalpolizei, Ärztinnen und Ärzte sowie die Traumaambulanz am Esslinger Klinikum gehören, kommt auch den Opfern sexualisierter Gewalt zugute. Doch ist es nicht damit getan, die Betroffenen weiterzuvermitteln. Damit diese nach einem Übergriff wieder handlungsfähig werden, gilt es, verschiedene Fragen zu klären – zum Beispiel, ob sie den Vorfall bei der Polizei anzeigen möchten. „Für viele ist es nicht der richtige Weg, dass ermittelt wird“, sagt Silke Unrath, Sozialpädagogin und Beraterin bei Wildwasser, aus Erfahrung. Um auch ohne eine Anzeige Spuren sichern zu lassen und eine kostenfreie medizinische Erstversorgung zu gewährleisten, „brauchen wir in der Stadt und im Landkreis dringend ein umfassendes Konzept, das mit öffentlichen Geldern finanziert wird“, stellt Martina Huck klar. In anderen Regionen, etwa im Kreis Pforzheim oder im Rems-Murr-Kreis, sei man da schon deutlich weiter. In Heidelberg gibt es am Uniklinikum sogar eine Gewaltambulanz.

Die Initiative der Bundesfamilienministerin habe deutlich gemacht, „dass sexualisierte Gewalt ein gesellschaftspolitisches Thema ist“, sagt Martin Huck. Bisher vermissen sie und ihre Mitstreiterinnen aber eine Reaktion der örtlichen Politik und Verwaltung. „Frauen, die Opfer von Übergriffen geworden sind, haben das Recht, umfassende Hilfe zu bekommen.“ Das Know-how sei in der Stadt durchaus vorhanden. „Es fehlt nur an einer sicheren Finanzierung.“