Stürmische Zeiten für die Windindustrie: Der Ausbau bricht ein, in der Politik wird über Abstandsregelungen gestritten. In Ostfriesland, wo Windräder besonders dicht stehen, leben viele Menschen näher als 1000 Meter an Windparks - teils mit drastischen Auswirkungen.
Holtgast (dpa) - Zu Hause schlafen, daran war irgendwann nicht mehr zu denken. Hermann Oldewurtel und Insa Bock übernachten jahrelang auf einem Campingplatz oder in Ferienwohnungen, dann kaufen sie ein neues Haus und flüchten vor dem Windpark hinter ihrem Haus.
Die alten Wohnräume werden nur noch für Schallmessungen genutzt, der Garten verwildert - hinter der Hecke drehen sich die Rotoren weiter.
«Ich habe gar nicht mehr geschlafen, hatte Schwindelanfälle, Tinnitus, Herzrasen. Auch Kopfschmerzen, das kannte ich früher gar nicht», erzählt die 55-jährige Bock in ihrem alten Zuhause in der ostfriesischen Gemeinde Holtgast. «Hier stehen 42 Windräder. Die nächsten stehen bis auf 650 Meter circa am Haus», sagt ihr Partner Oldewurtel. «Dahinter ist der nächste Windpark, da stehen 120 circa. Wir sind eingekreist.» An diesem Tag gibt der Nebel nur den Blick auf ein paar Anlagen frei. Die Flügelschlaggeräusche sind im Garten leicht zu hören, unter diesen Wuschs tönt ein dumpfes Brummen.
Doch diese Geräusche seien gar nicht das Problem, erzählen beide. Windenergieanlagen erzeugen Infraschall, im Frequenzbereich unter 20 Hertz ist er für den Menschen nicht hörbar, wird aber als Vibration wahrgenommen. Anwohner machen ihn für zahlreiche gesundheitliche Probleme wie Depressionen verantwortlich. Allerdings entsteht er nicht nur an Windrädern, sondern auch durch Meeresbrandungen und Stürme oder Verkehr und Klimaanlagen.
Nach Einschätzung des Umweltbundesamtes stehen die derzeit vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Infraschall einer Nutzung der Windenergie nicht entgegen - allerdings fehlten noch Langzeitstudien. Es bedürfe dringend Studien, die die Wirkung genauer untersuchen, heißt es im Ärzteblatt 2019.
Für Oldewurtel und Bock ist der Fall klar: Ob auf Geschäftsreise, Reha oder im Urlaub, überall hätten sie besser schlafen können als zu Hause - mit ausreichend Abstand seien die Beschwerden verschwunden. Auch jetzt, da sechs Kilometer zwischen neuem Haus und den Windrädern lägen.
Der Abstand von Windrädern zu Wohnsiedlungen gehört derzeit zu den besonders umkämpften Themen in der Politik. Einige Bundesländer haben schon feste Regeln dafür. Im Klimapaket haben sich Union und SPD auf einen bundesweiten 1000-Meter-Mindestabstand verständigt, von dem Kommunen und Länder aber abweichen dürfen, wenn sie wollen. Aber 1000 Meter von was genau? Einem Entwurf von Energieminister Peter Altmaier (CDU) zufolge sollen sechs Häuser ausreichen. Im Umweltministerium findet man das viel zu streng. Die Sorge ist, dass die Flächen für den ohnehin schwer ins Stocken geratenen Windkraft-Ausbau an Land noch knapper werden - der war im vergangenen Jahr auf den tiefsten Stand seit mehr als 20 Jahren eingebrochen.
Laut Windenergieanlagenbauer Enercon, der Ende 2019 angekündigt hat, rund 3000 Stellen abzubauen, wird sich der Einbruch mit pauschaler Abstandsregelung fortsetzen. Die Fläche für potenzielle Standorte würde sich um etwa 50 Prozent, die bereits mit Windparks bebauten Flächen um 80 Prozent reduzieren, so ein Sprecher. Akzeptanz sei keine Frage des Abstands, sie steige, wenn Anwohner in den Planungsprozess mit einbezogen würden und von den Projekten vor ihrer Haustür finanziell profitierten.
Hinter dem Streit um Abstand und Häuser-Zahl steht ein größeres Problem. Deutschland steigt aus der Atomkraft und aus der Kohle aus. 2030 sollen erneuerbare Energien - vor allem aus Wind und Sonne - 65 Prozent des Stroms liefern, derzeit sind es gut 40 Prozent. Allerdings steigt der Bedarf, wenn mehr Elektroautos verkauft werden und man auch sonst für den Klimaschutz auf Elektrifizierung statt fossile Brenn- und Heizstoffe setzt. Damit ist also klar: Wenn die Energiewende gelingen soll, muss der Ausbau der erneuerbaren Energien viel schneller vorangehen als bisher. Wie, bleibt erst mal offen, Union und SPD liegen sich im Bund dazu seit Monaten in den Haaren.
Im Windland Nummer eins Niedersachsen steht nur ein Bruchteil der knapp 6500 Windräder im Abstand von 1000 Metern zu Wohnhäusern. Sven Reschke-Luiken lebt im Schwerpunktgebiet nahe der ostfriesischen Küste - und ist weit entfernt von Akzeptanz. Der 49-Jährige und seine Familie blicken in Großheide auf zahlreiche Windräder. Das den Anlagen zugewandte Schlafzimmer nutzen sie mittlerweile als Abstellraum - auch bei geschlossenem Fenster sei Schlafen dort nicht möglich.
Eines der drei Kinder habe Migräne bekommen, «immer wenn wir Ostwind haben und der Schalldruck aufs Haus geht.» Reschke-Luiken sagt: «Die nächste Anlage ist 840 Meter entfernt, das ist fast ein Kilometer. 1000 Meter Abstand sind viel zu wenig». Auch die Höhe der Anlagen müsse berücksichtigt werden, in seinem Fall sind es 186 Meter. Als Beispiel nennt er Bayern, wo der zehnfache Abstand der Höhe vorgeschrieben ist - und 2019 gerade mal sechs neue Anlagen in Betrieb gingen.
«Wir haben seit 1994, glaube ich, immer einen Windpark vor der Tür gehabt mit über 50 Anlagen», sagt Hermann Oldewurtel im nahe gelegenen Holtgast. «Das waren kleinere Anlagen, in der Spitze 60 Meter hoch. Die waren lästig: Man hat sie gesehen, man hat sie gehört - und das lauter als die heute. Aber die machten nicht krank.»
Der Chef eines Sandabbau-Unternehmens kämpft gerade vor dem Landgericht Aurich für die Abschaltung. «Das ist mein Elternhaus, meine Firma ist hier. Ich will hier auch wieder leben, das ist mein Zuhause.» Mit Rechtsstreits inklusive teuer angeschafften Messgeräten verzocke er gerade seine Rente. «Das ist eine kalte Enteignung, was hier betrieben wird. Man kann hier nicht mehr wohnen, zieht weg und sagt dann nichts mehr.» So haben das einige direkte Nachbarn gemacht. Andere harren trotz Beschwerden aus. Wieder andere spüren nichts.