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Sie kämpft für globale Gerechtigkeit, sie plädiert für Lehm als ökologischen und sozialen Baustoff: Der Architektin Anna Heringer widmet die Stuttgarter Ifa-Galerie eine Ausstellung.

StuttgartX7 billion“: Was Anna Heringer an die Hörsaalwand der Universität Stuttgart wirft, sieht nach Mathe-Aufgabe aus. Doch die schlichte Formel ist mehr: ein Weltrettungs-Rezept. „Man ändert die Welt nicht mit einer großen Entscheidung, sondern durch kleine Veränderungen, die sich multiplizieren lassen“, sagt die Architektin. Mal sieben Milliarden, weil so viele Menschen die Erde bevölkern. „Architektur ist ein Mittel, das Leben zu verbessern“ fasst sie ihre Philosophie in einen Satz. Und dann schiebt sie eine vielsagende Geschichte hinterher: Sie habe ihren Studenten an der ETH Zürich erst mitten während einer Berg-Exkursion eröffnet, dass sie für die Nacht keine Hütte gebucht habe. Angehende Architekten müssten in der Lage sein, eine Behausung für die Nacht zu improvisieren. Die Studenten hätten dann aus Ästen und Tannenzweigen einen passablen Unterschlupf gebaut. Die vorhandenen Ressourcen und Materialien nutzen – das war die Lektion, die sie ihnen erteilen wollte.

Begeistert vom Baustoff Lehm

Dieses Berufscredo hat die Architektin aus Laufen nahe der österreichischen Grenze zu ihrem bevorzugten Baustoff geführt: Lehm. Er sei für sie das Bindeglied zwischen ihrem „Brennen für soziale Gerechtigkeit und Ökologie“ und ihrem Drang zum Entwerfen und Gestalten.

Lehm ist für die 42-Jährige ein hochwertiges Baumaterial, das Ziegeln, Beton oder Stahl ebenbürtig sei. Der Baustoff ist fast überall lokal vorhanden, er ist damit CO2 -neutral, zudem komplett recycelbar und ein exzellenter Klimaregler. Anna Heringer ist die Lehm-Koryphäe in Deutschland. Als 19-Jährige kam sie in das Dorf Rudrapur im Norden Bangladeschs, um als Entwicklungshelferin zu arbeiten. Später entwarf sie mit ihrer Diplomarbeit eine Lehm-Schule für Rudrapur.

Längst sind andere Projekte hinzugekommen, etwa ein Jugend-Hostel ganz aus Bambus in China, ein Kindergarten in Simbabwe. Egal wo und was sie baut: Heringer bezieht die Nutzer stets in ihre Arbeit mit ein und will deren Lebensumstände verbessern. Inzwischen ist sie auch Inhaberin eines Modelabels. Es nennt sich Dipdii Textiles, und was es damit auf sich hat, erfährt man derzeit in der Stuttgarter Ifa-Galerie in der Ausstellung „Kleider machen Orte“. Sie habe bei ihren Aufenthalten in Bangladesch erlebt, wie die Frauen in die Textilfabriken abwandern, weil es in den Dörfern kaum Arbeit für sie gibt. Heringer fand ein anderes Gebiet, sich zu engagieren: die traditionelle, hoch entwickelte Textilkunst des Landes.

Eine Dorf-Bewohnerin bekommt einmal im Jahr einen Sari geschenkt. Sind die Saris abgetragen, werden sie zu Decken vernäht, auf denen die Familie schläft. Sind die Decken abgenutzt, landen sie nicht im Müll oder werden zu Putzlappen zerrissen. Vielmehr fertigen die Dorf-Frauen von Hand daraus Oberteile, Westen, Kissenbezüge oder Wandbehänge für Dipdii Textiles, jene Modemarke, die Heringer zusammen mit der Designerin Veronika Lena und der gemeinnützigen Organisation Dipshikha ins Leben rief.

Heringers Herzjob bleibt aber der Lehm. In Deutschland hat sie bislang wenig gebaut, für den Wormser Dom entwarf sie einen Altar. Jetzt steht ihr erstes großes Projekt hierzulande in den Startlöchern: zwei Gebäude in Traunstein für ein Zentrum für Nachhaltigkeit im Auftrag der Diözese München-Freising. Trotz des wachsenden Nachhaltigkeits-Bewusstseins gilt sie immer noch als Exotin. Sie belässt es eben nicht dabei, sich über die Stolpersteine zu ärgern, die man dem Lehmbau in den Weg legt, sondern stellt das System in Frage: „Wenn man sich menschliche Arbeitskraft und natürliche Materialien für eine nachhaltigere Bauweise nicht leisten kann und stattdessen mit CO2 -intensiven Stoffen wie Beton baut, stimmt unser Wirtschaftssystem nicht.“

Bis 5. Januar 2020. Geöffnet dienstags bis sonntags von 12 bis 18 Uhr.