Sechs Monate lang war das Wappentier Foto: bloßgestellt. - bloßgestellt.

Nach fast sechs flügellahmen Monaten hat der Adler am Nordgiebel des Alten Rathauses seine Schwingen zurück – und flattert wieder zu jeder vollen Stunde.

EsslingenPünktlich zu den Esslinger Haushaltsberatungen ist es dem Adler am Nordgiebel des Alten Rathauses doch noch gelungen, sich wieder zu alter Kraft aufzuschwingen. Und damit alle Lügen zu strafen, die das stolze Wahrzeichen freier Reichsstädte im Mittelalter schon auf Dauer als flügellahmen Pleitegeier abgeschrieben haben. Am Mittwochvormittag ist der Steiger samt Holzrestaurator Thorsten Weil und Uhrenfachmann Uwe Eisenhart mit den beiden geflickten und aufgefrischten Holzflügeln eingeschwebt, die dem Esslinger Wappentier vor einem halben Jahr abgenommen worden waren. Damit hat der doch arg gerupfte Kerl seine besten Stücke wieder. Und siehe da: Eine gute halbe Stunde später kam der Gipfelstürmer der astronomischen Uhr aus dem Jahr 1589 wieder seinen Pflichten nach und schlug elf Mal kräftig mit den Schwingen. Sitzt, passt, wackelt und hat Luft.

Aus der Nachbarschaft des Alten Rathauses waren im vergangenen Sommer Meldungen eingegangen, dass ein Adlerflügel in Schräglage geraten war. So erzählen die einen. Bei Wartungsarbeiten am Glockenspiel seien die Schäden entdeckt worden. So schreibt die Stadt. Vermutlich trifft irgendwie beides zu. Einen Absturz aus 25 Metern Höhe samt möglichen Opfern wollte jedenfalls keiner im Rathaus mitverantworten müssen. Also rückte am 15. August ein Steiger an und die beiden 80 Zentimeter hohen, durch die Unbilden der Witterung schwer lädierten, morschen Schwingen kamen erst einmal unter die Fittiche der Turmuhrenbaufirma Eisenhart nach Möglingen – ein Fachbetrieb, der auch andere historische Uhren und diverse Läutwerke in Esslingen und andernorts hegt und pflegt. Der nackte Torso des gerupften Wappentiers blieb unter dem goldverzierten Baldachin zurück.

Federn von der Birne

Dass es nunmehr fast ein halbes Jahr gedauert hat, bis der Adler wieder in Würde auf Einheimische und Touristen in der Altstadt hinunterschauen kann, ist dem Denkmalschutz geschuldet. Schließlich darf nicht jeder an so einen Vogel ran. Holzrestaurator Thorsten Weil aus Fellbach, der sich auch schon um den Boden in der Villa Merkel und die Holzvertäfelungen im Lempp-Zimmer des Alten Rathauses verdient gemacht hat, entwickelte ein Sanierungskonzept, das dann auch Gnade in den Augen der Landesdenkmalschützer gefunden hat.

Das Krankheitsbild war jedenfalls auch Laien ersichtlich: Tiefe Risse durchzogen das morsche Birnenholz. Weil: „Sehr ungewöhnlich, ich hätte eigentlich Eiche erwartet.“ Ein Teil des Gefieders war schon herausgebrochen. Waren die Lücken zu groß, hat er kleine Keile eingesetzt – das Holz dafür stammt von einem Birnenstamm, den der Restaurator in der Nähe der Katharinenlinde hat liegen sehen. „Ich habe mein Kärtchen drangemacht, weil ich so ein Holz immer mal wieder verwenden kann. Und der Besitzer hat sich dann tatsächlich bei mir gemeldet.“ Weil konnte auch nicht jeden alten, vergoldeten Bogen zwischen den Federn erhalten. Aber zumindest einmal sind die Ersatzteile aus Esslinger Holz geschnitzt. Und das – da sind die Denkmalschützer doch sehr kulant – muss auch nicht ins 16. Jahrhundert zurückdatieren.

Nicht nur Schäden im Holz ausgebessert

Überhaupt dürften nur noch ein paar alte, unscheinbare Nägel an den Metallbändern hinten, die die Federn zusammenhalten, noch aus den Anfangszeiten des Adlers stammen. Es war auch nicht das erste Mal, dass die Schwingen des Wappentiers in stationärer Behandlung waren. Dennoch muss jede Renovierung den Ansprüchen der Denkmalschützer genügen. Weil hat nicht nur die Schäden im Holz ausgebessert, sondern auch den Goldüberzug ergänzt und eine Schutzschicht aufgebracht. Zudem wurden die Metallbeschläge repariert. Die Renovierungsarbeiten schlagen mit 3000 Euro zu Buche, knapp noch einmal so viel kommt für Steiger, Montage etc. dazu.

Wie lange der Adler nunmehr wieder unversehrt über den symbolträchtigen Figuren der Justitia (Gerechtigkeit) und Temperantia (Mäßigkeit) thront und wann er wieder Federn lassen muss, weiß kein Mensch. Weil, Jahrgang 1963, hofft jedenfalls schwer, dass seine Schwingenpflege eine höhere Halbwertszeit hat als seine noch ausstehenden Berufsjahre. Doch als erstes muss Turmuhrenspezialist Uwe Eisenhart noch einmal an. Er will das stündliche Zurückschwingen von Adlers Fittichen noch etwas abpuffern – um das Gefieder auch anderweitig zu schonen. Oft genug ist er ja in Esslingen: Derzeit sind seine Leute dabei, die Uhr am Pliensauturm wieder zum Laufen zu bringen. Die stand jahrelang auf fünf nach zwölf. Und so erwartet die Esslinger in der kommenden Woche vielleicht gleich die nächste historische Stunde.