Dem Gewaltherrscher schwant Übles: Zar Boris Godunow (Adam Palka, sitzend) und seine Entourage in Paul-Georg Dittrichs Stuttgarter Inszenierung. Foto: Matthias Baus - Matthias Baus

Mit einer Verschränkung von Altem und Nagelneuem, Vergangenheit und Zukunft inszeniert Paul-Georg Dittrich das „BORIS“-Projekt an der Stuttgarter Oper.

StuttgartIn Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ ist nicht die Titel- die Hauptfigur, sondern: das Volk, verstanden als unterdrückte, manipulierbare oder aufbegehrende Masse. So spiegelt sich in der Geschichte des 1598 gekrönten glücklosen Zaren, der den Verdacht nicht los wurde, er habe den legitimen Thronfolger ermorden lassen, die Tragödie eines jubelnden, hungernden, verfluchenden, jedenfalls passiv-aggressiven Volkes: zwar als Hauptfigur, aber gerade nicht Handlungsträger, da es weit davon entfernt ist, seine Geschichte selbst in die Hand zu nehmen. Eine Tragödie speziell des russischen Volkes? Der Regisseur Paul-Georg Dittrich, der „Boris Godunow“ an der Stuttgarter Oper inszeniert, will von nationalen Stereotypen nichts wissen. Für ihn zählt der „exemplarische Vorgang“ von Aufstieg und Fall eines Gewaltherrschers, das Drama eines Volkes, das – frei nach Dostojewski – seine eigene Freiheit nicht erträgt. Bezüge zur populistischen Gegenwart liegen auf der Hand.

Blick zurück nach vorn

Doch keinen Boris Johnson oder Donald Godunow schickt Dittrich auf die Szenenreise, vielmehr denkt er das Geschehen weiter, siedelt es mit dem Bühnenbild von Joki Tewes und Jana Findeklee in einer „dystopischen Zukunft“ an. Der Blick zurück – auf die historische Oper und ihre historische Handlung – wird zum Blick nach vorn: auf eine „Naturkatastrophe, eine vom Menschen geschaffene Stunde Null“, so Dittrich, wo aus dem Elend, der Irritation, der Bewusstlosigkeit des Volkes der Zar Boris aufersteht, als neuer „starker Mann“, als „herrschender Mensch und Blendung zugleich“.

Ebenso bedachtsam, wie der ältere Stoff in die Zukunft verlegt wird, wird er kontrapunktiert von unserer nahen Vergangenheit, und für sie steht im Stuttgarter „BORIS“ – fürs Gesamtprojekt lässt die Oper die Majuskeln spielen – ein nagelneues Stück: die Uraufführung von Sergej Newskis „Secondhand-Zeit“ nach dem gleichnamigen dokumentarischen Roman von Swetlana Alexijewitsch. In dem Buch von 2013 (Untertitel: „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“) sammelt die weißrussische Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Originalstimmen aus dem ehemaligen Sowjet-Volk – nicht im kollektiven Unisono, sondern als vielstimmigen und dissonanten Chor: Stimmen von Stalin-Nostalgikern und traumatisierten Afghanistan-Kämpfern, von Dissidenten und Funktionären, einstigen Gulag-Häftlingen und sogenannten kleinen Leuten, für die sich zwischen vor- und nachher nichts ändert am armseligen Dasein. „Es ist ein Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven auf die Geschichte und das eigene Leben, das die Frage nach richtig oder falsch nicht stellt“, sagt Dittrich. Und das Ganze mündet in eine Art Zeit-Recycling: Symbole und Embleme, Ideale und Erinnerungen kehren wieder als sinnentleerte, fragmentarische Identitätsreste – gebraucht und wieder benutzt als Zeichen oder auch nur als Accessoires einer Zeit aus zweiter Hand.

„Wenn Alexijewitsch den Retro-Kult junger Moskauer mit Lenin- und Stalin-T-Shirts beschreibt“, sagt Dittrich, „dann tragen diese jungen Leute die Shirts nicht als politisches Bekenntnis, sondern weil sie es cool und irgendwie provokant finden – abgelöst vom ursprünglichen Kontext, den sie vergessen haben oder der sie nicht interessiert.“

Der 1972 geborene russische Komponist Newski mache zu jener Vielstimmigkeit eine „stilistisch vielfältige Musik, von Madrigalen bis zu Orchester- und Vokalfarben, die an eine Verwandtschaft mit Helmut Lachenmann erinnern könnten“, lobt der Regisseur. Und: „Man spürt bei Newski immer einen Puls von Leidenschaft und Emotion, nichts Verkopftes.“

Uraufgeführt wird „Secondhand-Zeit“ nicht als vorangestellter oder nachgereichter Kommentar zu „Boris Godunow“, sondern als unmittelbare Intervention: Newskis Intermezzi stehen zwischen den Bildern der knapperen, radikaleren Erstfassung der Mussorgski-Oper von 1869. Sechs Episodenfiguren des älteren werden zu Protagonisten des neuen Stücks, sie verwachsen mit Alexijewitschs postsozialistischen Erinnerungsträgern und Alltagshelden – und sie agieren unter anderem auch vom Zuschauerraum aus. Der verspottete Gottesnarr etwa erscheint als Obdachloser, den Makler um seine Wohnung gebracht haben. Aus dem entlaufenen Mönch Grigori, der sich für den tot geglaubten rechtmäßigen Thronfolger ausgibt, wird ein jüdischer Partisan, der selbst vor seinen gegen die Nazis kämpfenden Genossen seine jüdische Identität verbergen musste.

„Utopisches Zerrbild“

Am Schluss des „BORIS“-Projekts hat nicht der Tod des Zaren das letzte Klangwort, sondern Newskis Epilog. Er steht an der Stelle der sogenannten Revolutionsszene, mit der Mussorgskis Werk – allerdings erst in der zweiten, üppigeren Fassung von 1872 – endete. Bei Newski aber nicht mehr als geschichtspessimistisches Tableau eines erneut verführten und betrogenen Volkes, sondern als „Ausbruch aus dem Kreislauf der Gewalt“, wie Dittrich sagt: Im „Dialog mit den Toten“ zieht sich kollektive Erinnerungsarbeit selbst aus dem Sumpf des Gedächtnisverlusts, formiert ein „utopisches Zerrbild, in dem die Menschen die Trümmer der Vergangenheit neu zusammensetzen, um ihre Gegenwart besser zu gestalten“.

Die Premiere beginnt an diesem Sonntag, 2. Februar, um 18 Uhr im Stuttgarter Opernhaus. Die nächsten Vorstellungen folgen am 7., 16. und 23. Februar, 2. März sowie 10. und 13. April.