Schon vor zwölf Jahren setzte sich Ursula Hofmann mit ihren Kindern – Anne im Reha-Buggy – für einen barrierefreien Zugang zum Merkelschen Bad ein. Passiert ist immer noch nichts. Foto: Archivfoto:Bulgrin - Archivfoto:Bulgrin

Als Mutter eines schwerbehinderten Mädchens engagiert sich Ursula Hofmann mit ihrem Verein Rückenwind seit Jahren für bessere Unterstützung Betroffener in Esslingen. Dafür erhält sie nun den Freimaurer-Preis.

EsslingenWenn die Esslinger Freimaurer am 14. Oktober Ursula Hofmann den Dr. Gotthilf-Schenkel-Preis für Mitmenschlichkeit verleihen, muss sich die Preisträgerin leider vertreten lassen. Vor einem Jahr hat die Vorsitzende des Vereins „Rückenwind – Pflegende Mütter behinderter Kinder stärken“ damit begonnen, einen zweiwöchigen USA-Urlaub mit ihrem Mann zu organisieren. Und so etwas braucht bei Familie Hofmann viel, viel Vorlauf – und toppt nahezu jeden Preis. Denn Anne, ihre Jüngste im Nachwuchs-Quartett, ist ein „besonderes Kind“, wie Hofmann sagt. Eine fröhliche 16-Jährige, die nicht alleine laufen und nicht alleine essen kann. Ein Kind, das nie selbstständig leben wird. Hofmann: „Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, können sich die anderen Eltern neu orientieren. Doch wo werden unsere schwer mehrfach behinderten Kinder, die einen hohen Pflege- und Betreuungsbedarf haben, nach der Schule arbeiten und wohnen? Da gibt es keine Angebote für junge Menschen.“ Damit beschreibt die 57-Jährige die Lebenssituation von vielen Eltern schwerbehinderter Kinder. „Wir müssen um all das kämpfen, was für Eltern mit einem ,Regelkind’ selbstverständlich ist.“ Zum Beispiel eben um den Platz in einer Kurzzeitpflege, ohne den ein Urlaub mit dem Mann nicht machbar ist. Nicht, dass Ursula Hofmann die Auszeichnung der Freimaurer nicht wertschätzen würde. Als Trägerin des Sonderpreises Inklusion, den Rückenwind beim Ehrenamtspreis von Eßlinger Zeitung und Volksbank verliehen bekam, weiß sie, dass solche Preise ihrem Anliegen immer wieder Öffentlichkeit und damit Schubkraft verschaffen. Doch ein Kurzzeitpflegeplatz ist etwas Wertvolles. Und im Kreis Esslingen nach wie vor immer noch nicht im Angebot.

2006 hat die gelernte Hebamme den Verein Rückenwind gegründet. Mit der Erfahrung im Rücken, dass man sich für ein Kind, das nicht in eine diagnostische Schublade passt, alle Informationen über Assistenzen und Hilfsmittel selbst besorgen muss. Dass man zwischen Therapiestress, Behördendschungel und Krankenkassenbudgets hin und her laviert. Und in der Hoffnung, dass man in einer offenen Selbsthilfegruppe all das Wissen bündeln könnte, was die Betroffenen im Laufe der Jahre selbst gesammelt haben. Hofmann: „Wer weiß schon, dass man für sein inkontinentes Kind ab drei Jahren Windeln auf Rezept bekommt?“

Die Gruppe traf sich – anfangs noch unter dem Dach des Vereins für Körperbehinderte – im Esslinger Mütterzentrum. Dort ist Rückenwind nach wie vor zuhause. Allerdings seit 2015 als selbstständiger Verein, der mittlerweile etwa 50 Mitglieder aus dem ganzen Landkreis und der Region Stuttgart hat. Hofmann ist Seele und Vorkämpferin der Gruppe. Ihr Ziel: mehr Teilhabe behinderter Menschen und ihrer Familien im Alltag. Zum Beispiel durch die seinerzeit erste Pflegeliege zum Wickeln von größeren Kindern und Erwachsenen in Esslingen, die im Einkaufszentrum „Das ES“ eingerichtet wurde. Dafür haben die Rückenwind-Familien im Herzen des Konsumtempels eifrig Weihnachtgeschenke verpackt. Eine Aktion, die mittlerweile zu Weihnachten wie der Tannenbaum gehört und so viele Spenden generiert, dass sich die Vereinsmitglieder zwei Auszeit-Wochenenden im Jahr gönnen können. Und Vereine wie Villa oder Jugendfarm bedenken können, die umfängliche inklusive Ferienangebote machen. Gerade einmal zwei Ferienwochen decke die Lebenshilfe ab, ärgert sich Hofmann über die ihrer Ansicht nach viel zu bescheidenen Offerten des Landkreises Esslingen für schwerbehinderte Kinder. Vor allem für Kindergartenmütter sei die Situation desaströs, verhindere die Berufstätigkeit und treibe die Frauen so spätestens im Rentenalter in die Armut. Und bei der Nachmittagsbetreuung, die vor zwei Jahren an der Rohräckerschule eingeführt worden ist, sei es aufgrund einer neuen Gesetzesvorlage noch unklar, wie es weitergehe, weiß die stellvertretende Elternbeiratsvorsitzende. „Für ,Regelfamilien’ wird alles gemacht. Wir wollen nur eine Gleichstellung mit diesen Familien.“

Ursula Hofmann hat schon lange die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit Handicap-Kindern fordern statt bitten müssen. Das passt nicht jedem. Aber Hofmann ist unermüdlich unerschrocken. „Inklusion in Esslingen ist mühsam. Man sieht das zum Beispiel am Merkelschen Bad.“ Vor zwölf Jahren hatte sie anlässlich der Rückenwind-Gründung mit ihren Kindern für die EZ Annes Reha-Buggy über die Treppen gehievt. Und noch immer gibt es dort keinen barrierefreien Eingang.

Persönlichen Aufwind holt sich Ursula Hofmann im Esslinger Frauenrat. Oder im Gemeindevorstand der Evangelisch-Methodistischen Kirche. Besonders viel Kraft bezieht sie aber aus ihrer bundesweiten politischen Lobbyarbeit. Seit 2013 ist sie Mitglied in der Bundesfrauenvertretung im Bundesverband für körper- und mehrfach behinderte Menschen, und in diesem Jahr wurde sie in den Fachausschuss Sorgearbeit im Deutschen Frauenrat berufen. Und die Musik gehört dann auch noch zu ihren kleinen Fluchten. Hofmann spielt Querflöte in der Kirchenband und im Plusminus-50-Orchester an der Musikschule Esslingen. Ob auch das preiswürdig, kann an dieser Stelle leider nicht beantwortet werden.

In der Tradition Schenkels

Die Freimaurerloge Zur Katharinenlinde Esslingen hat 2014 zum ersten Mal den „Dr. Gotthilf-Schenkel-Preis für Mitmenschlichkeit“ verliehen. Sie erinnert damit an den ehemaligen Kultusminister von Baden-Württemberg, Pfarrer von Oberesslingen und Freimaurer, der als „Vorkämpfer der demokratischen Idee der Gedanken- und Glaubensfreiheit, der Toleranz, der Humanität und des Lebensrechts der Minorität “ gelte.

Ursula Hofmann, Gründerin und Vorsitzende des Vereins „Rückenwind Esslingen – Pflegende Mütter behinderter Kinder stärken“ , ist in diesem Jahr die Preisträgerin. 2014 ging die Auszeichnung an die „Bürger für Berber“, zwei Jahre später an den Bereich Seiltänzer der Stiftung Jugendhilfe aktiv. Das Credo der Rückenwind-Eltern „. . . und doch verbindet uns alle eins: Wir lieben unsere Kinder!“ und die Bereitschaft, Mitmenschen zu helfen, haben die Esslinger Freimaurer dem eigenen Bekunden nach davon überzeugt, den dritten Dr. Gotthilf-Schenkel-Preis an Hofmann zu verleihen – „denn Freimaurer stehen für Humanität, Toleranz und Menschenliebe“.