Gunnar Dieth an seinem neuen Bestimmungsort Foto: Horst Rudel

Gunnar Dieth ist ein Vollblutmusiker. Doch als Corona seine beruflichen Möglichkeiten ausknockte, schulte er um: Der Dirigent der Städtischen Orchester Kornwestheim, Dirigent, Veranstalter und Tonproduzent fährt jetzt S-Bahnen.

Es ist ein eigenartiger Zufall, dass der Weg zum S-Bahn-Werk in Plochingen direkt am neuen Musikzentrum des Blasmusikverbands Baden-Württemberg vorbeiführt. Luftlinie zum neuen Arbeitsplatz des Blasmusikers Gunnar Dieth sind’s nur um die 100 Meter.

Der 46-Jährige sitzt nicht im Musikzentrum, sondern in einer S-Bahn der Baureihe 430 und rattert bahn-fachchinesische Details so selbstverständlich herunter, als ginge es um Arrangements für Bläserquintetts oder die Vorzüge eines bestimmten Mischpults. Dabei ist alles noch recht frisch in seinem neuen Leben als S-Bahn-Fahrer. Er wirkt aber so, als sei er schon ein alter Hase. „Hier zu sein, ist ein sehr gutes Gefühl“, sagt er über sein neues Wirkungsfeld.

Gunnar Dieth ist studierter Trompeter, Nebenfächer Schlagzeug und Klavier, Fachrichtung Jazz- und Popularmusik. Er ist Arrangeur, Eventmanager, er verleiht Veranstaltungsequipment. Und er ist Dirigent, seit mehr als 20 Jahren nahezu verwachsen mit den Städtischen Orchestern in Kornwestheim. Er dirigiert aber auch den Musikverein Oeffingen oder hat das Blasorchester Egerland aus der Taufe gehoben. „Ende 2019 war ich außerdem bei einer Partnerfirma als Projektleiter eingestiegen“, erzählt er.

Mit 45 Jahren der Senior

All diese Aktivitäten brachen mit Beginn der Coronapandemie abrupt ab. „Ab Februar 2020 kam eine Absage nach der anderen. Im Sommer war die Auftragslage gleich null.“ Eine Situation, die er sich niemals hätte vorstellen können: „Wenn mir mal einer gesagt hätte, mit der Musik kannst du kein Geld mehr verdienen, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.“ Aber Gunnar Dieth ist ein Mensch, der nach vorne blickt. Er überlegte sich, wo es Perspektiven geben könnte – krisensichere, abwechslungsreiche. Die Idee, Fachkraft in der Veranstaltungstechnik zu werden, schied aus: „Sollte sich etwas wie Corona wiederholen, stünde ich wieder vor dem Nichts“, überlegte er. „Aber ein Typ, der jeden Tag stupide das Gleiche machen kann, bin ich auch nicht.“

Als er auf das Angebot stieß, bei der S-Bahn Stuttgart zum Eisenbahner im Betriebsdienst umzuschulen, war er angefixt. Bewerbung, Vorstellungsgespräch, schnelle Erkenntnis auf beiden Seiten, dass das passen könnte, Einstellungstest in Augsburg: Es ging dann flott. Im Januar 2021 bekam er die Zusage, im Februar ging die Ausbildung los. Zusammen mit 15 Menschen aus aller Herren Länder, fast alle Geflüchtete, zum Beispiel auch eine iranische Englisch-Lehrerin. „Unglaublich, wie die sich reingehängt haben“, sagt Dieth. „Dabei ist die Bahnsprache schon für uns Deutsche nicht einfach.“ Von Anfang an habe in dem „bunt gemischten Haufen, in dem ich mit 45 Jahren der Senior war“, so Dieth, Herzlichkeit geherrscht. Auch mit den Ausbildern sei das Verhältnis familiär und wertschätzend gewesen: „Man hat alles dafür getan, dass wir uns wohl fühlen.“

„Ohne Musik kannst du mich weglegen“

In der Friedrich-Ebert-Schule in Esslingen-Zell drückte Dieth noch mal die Schulbank. Mit allem, was dazugehört, inklusive Klassenarbeiten. „Die Berufsschule hat mir mehr Spaß gemacht als früher die Schule“, meint er lachend. Zu den motivierenden Faktoren habe ein toller Klassenlehrer gezählt. Nach kaum einem Monat gab’s auch schon erste Fahrtage. „Beim ersten Mal war ich fix und fertig, man muss auf so viele Dinge achten: Signale, Fahrplan, Abfertigung, Kommunikation mit Fahrdienstleitern und Stellwerken, aufpassen, dass keine Leute in den Türen hängen bleiben. . .“

Technisches Wissen draufschaufeln, in allen Sicherheitsfragen firm werden, die Fahrzeuge bis ins letzte Detail kennenlernen, pauken, Prüfungen ablegen: Die Ausbildung ist anspruchsvoll. „Am Weg selbst habe ich nie gezweifelt, aber die letzte Prüfungsphase war mental schon anstrengend“, erzählt Dieth. „Es ist eine Riesenverantwortung. Man muss sich wirklich in die Materie reinhängen.“ Seine Familie und seine Vereine, mit denen er nach Corona wieder zu arbeiten begann, stärkten ihm den Rücken. Ihnen bleibt er treu: Als Lokführer steigt er mit 70 Prozent ein. „Ohne Musik geht’s bei mir nicht“, sagt er. „Sonst kannst du mich weglegen. Dann hätte die S-Bahn auch nichts von mir.“

Alle haben die Ausbildung abgeschlossen

Von der 16-köpfigen Umschuler-Gruppe haben alle die Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen. Zwölf haben die Fahrprüfung bestanden und können jetzt Bahnen bei der S-Bahn Stuttgart steuern. Drei Geflüchtete werden im Rahmen des Quereinstiegs weiter zu Lokführern qualifiziert. Einer bekam mittlerweile die Ingenieursausbildung aus seinem Heimatland anerkannt, sodass er in seinem gelernten Beruf weiterarbeiten kann: Er erhielt einen Arbeitsplatz in der DB-Fahrzeuginstandhaltung.

Gunnar Dieth freut sich, dass es jetzt richtig losgeht, mit allem, was der Beruf mit sich bringt. Welche Umsicht es braucht, wenn Reif oder feiner, womöglich mit Industriestaub vermischter Nieselregen die Schienen seifig macht, weiß er schon aus Erfahrung. Und manche Streckenabschnitte, etwa zwischen Marbach und Backnang oder Rohr und Herrenberg, hat er bereits ins Herz geschlossen, „gerade jetzt im Winter“. Ein schöner Beruf sei es, „viel mehr, als vorne zu sitzen und einen Hebel vor und zurück zu hauen.“ Für ihn, sagt Dieth, sei er jedenfalls „top.“

Perspektiven bei der S-Bahn

Lokführer gesucht
Die S-Bahn Stuttgart will 2023 mit mehr als 80 neuen Mitarbeiten, die sie zu Lokführerinnen und Lokführern ausbildet, mehr Neueinstellungen vornehmen als im Schnitt der beiden Vorjahre – da waren es insgesamt mehr als 100. Das soll zudem über die neue DB-Arbeitgeberkampagne „Was ist dir wichtig?“ gelingen, die auch die Ausbildung als Lokführer bei der S-Bahn Stuttgart in den Fokus nimmt.

Quereinsteiger gefragt
Am 2. März plant die Bahn einen „Tag des Quereinstiegs“ im Info-Turm Stuttgart (ITS) an Gleis 16 im Hauptbahnhof. Interessierte sollen dort für den Lokführer-Quereinstieg begeistert werden und sich direkt einen Termin zum Vorstellungsgespräch sichern können. Im Oktober ist ein weiterer „Tag des Quereinstiegs“ geplant.