Judit Pfenning und Dominik Wüst nehmen die Chicorée-Pflanzen unter die Lupe. Das Interesse gilt nicht dem Salat, sondern der Wurzelrübe. Quelle: Unbekannt

Von Sebastian Steegmüller

Stuttgart - Im Jahr 1935 entwickelte Wallace Hume Carothers die erste Nylonfaser auf der Basis von Kohle, Luft und Wasser. Der Forschungsleiter des US-amerikanischen Chemiekonzerns DuPont setzte damit den Grundstein für eine Erfindung, die die Modewelt nachhaltig verändern sollte: Wenige Jahre später wurden die ersten Nylonstrümpfe in Wilmington angeboten. Die Nachfrage war so groß, dass innerhalb von drei Stunden rund 4000 Paar verkauft wurden. Bereits am 15. Mai 1940 wurde in den USA die Fünf-Millionen-Marke geknackt. Die Strümpfe gab es allerdings zunächst nur in ausgewählten Geschäften in US-amerikanischen Metropolen zu kaufen. Viele Kundinnen gingen damals leer aus.

Rund ein dreiviertel Jahrhundert später ist die Nachfrage immer noch ungebrochen. Auch an den Forschern der Universität Hohenheim ist die Faszination für das dehnbare Material nicht vorbeigegangen. Sie gehen jedoch aus wissenschaftlicher Sicht auf Tuchfühlung. Ihr Ziel: Sie wollen aus Abfällen der Lebensmittelproduktion unter anderem Nylonstrümpfe herstellen. Genauer gesagt aus Chicorée-Wurzelrüben, die bisher nach der Ernte des Chicorée-Salats auf der Kompostierungsanlage oder in der Biogasanlage entsorgt werden. Nach Angaben der Hochschule fallen davon europaweit pro Jahr rund 800 000 Tonnen als Abfallprodukt an. „Viel zu schade“, so die Ansicht der Forscher. Denn aus diesen Wurzelrüben lasse sich Hydroxymethylfurfural (HMF) gewinnen, einer der Basisstoffe in der Kunststoffindustrie von morgen.

Chicorée-Anbau im Miniaturformat

Obwohl es um die Strumpfhose geht, sieht die Forschung indes zunächst alles andere als sexy aus. In einem fensterlosen Raum der Versuchsstation stehen Regale an den Wänden. Auf drei Etagen türmen sich die mit Teichfolie ausgekleideten Wannen. Darin stehen in Kunststoffkörben die 15 bis 20 Zentimeter langen Wurzelrüben, aus denen verkaufsfähige Chicorée-Salatknospen innerhalb von drei Wochen wachsen. Mit der Pumpe eines Aquariums werden die Pflanzen mit einer Nährlösung umspült. Es ist dunkel, damit die Salatblätter in einem gelben Pastellton verbleiben und keine der chicorée-typischen Bitterstoffe bilden, die den Verzehr beeinträchtigen könnten. Ähnlich wie in dieser Anlage im Universitätsgelände - nur um ein Vielfaches größer - sieht es auch in der kommerziellen Produktion von Chicorée-Salat aus: Denn die zweijährige Pflanze verbringt nur fünf Monate auf dem Acker, die restliche Zeit wächst sie in Treibräumen heran. Im Gegensatz zur Lebensmittelindustrie interessiert sich die Universität jedoch vor allem für den nicht-essbaren Rübenanteil, der 30 Prozent der Pflanze ausmacht.

Wie wertvoll dieses Abfallprodukt ist, zeigt Professorin Andrea Kruse in einem Labor des Instituts für Agrartechnik. Dort werden bleistift-große Rohrreaktoren aus Edelstahl mit gehäckselter Chicorée-Wurzelrübe und Wasser befüllt. Die ultrastabilen Druckbehälter werden mit verdünnter Säure versetzt und auf bis zu 200 Grad erhitzt. Anschließend wird das wässrige Produkt aufbereitet. Wie diese Schritte ablaufen, unterliegt der Geheimhaltung. Fakt ist: Am Ende entsteht ein gelb bis braun gefärbtes kristallines Pulver: ungereinigtes HMF. Es dient als Ausgangsstoff für Nylon, Polyester oder biobasierte Kunststoffflaschen, sogenannte PEF-Flaschen. Bisher werden solche Chemikalien aus Erdöl gewonnen. Das Ziel der Bioökonomen ist, sie jedoch nachhaltig zu produzieren. Zum Beispiel aus Chicorée. Gegenüber dem aus fossilen Brennstoffen gewonnenen HMS kann aus ihr eine höherwertige Chemikalie hergestellt werden. Dadurch könnten PEF-Flaschen dünner gezogen werden als bisherige Erdöl-PET-Varianten. Das spart Transportkosten und verbessert die Umweltbilanz noch weiter.

Problem ist die Lagerung

In einem früheren Forschungsprojekt gelang es der Professorin bereits, HMF aus Fruchtzucker zu gewinnen. Auf Chicorée-Wurzelrüben zu setzen, sei jedoch eleganter, da sie bislang nur ein Abfallprodukt sind. „Fructose ist essbar. Es gibt bessere Verwendungszwecke.“ Eine Herausforderung bei Chicorée sei, eine gleichbleibende Qualität zu gewährleisten. „Nur wenn wir das schaffen, ist die Wurzel für die Industrie interessant“, so die Chemikerin, die das Problem gemeinsam mit ihren Kollegen vom Fachgebiet Allgemeiner Pflanzenbau lösen will. „Die Voraussetzungen sind an sich gut“, fügt die Agrarbiologin Judit Pfenning hinzu. „Auch der Verbraucher, der Chicorée essen will, stellt hohe und einheitliche Qualitätsansprüche an die Salatknospen.“ Darüber hinaus müsse noch geklärt werden, wie sich die Rüben ohne Qualitätsverlust lagern lassen. Während die Chicorée-Produktion Saisongeschäft ist, benötigen die Zulieferer der chemischen Industrie konstante Lieferungen, um ihre Anlagen kontinuierlich auszulasten.

Deren Interesse sollte spätestens nach folgendem Rechenbeispiel geweckt sein: Aus circa 222 000 Wurzelrüben pro Hektar könne man aus Sicht der Wissenschaftler und nach aktuellem Forschungsstand theoretisch 2,87 Tonnen HMF produzieren. „Über den Verkauf dieser Menge können circa 5,74 Millionen Euro erzielt werden“, so Kruse. Strom aus Biogas dieser Menge Wurzelrüben würde nach EEG zum Vergleich nur rund 21 000 Euro generieren.