So sah es im Juni 1988 während der Fußball-EM auf dem Cannstatter Campingplatz aus. Foto: /Baumann

Fürs gemeinsame Fußball-Erlebnis liefen einst wuchtige Röhrengeräte nebeneinander oder man drückte sich die Nase am Schaufenster platt. „Public Viewing“ steht erst seit 2007 im Duden. Vor dem Start der EM 2024 erinnern wir ans frühere Rudelgucken.

Ein Massenphänomen hat sich beim Sommermärchen 2006 mit dem Namen Public Viewing durchgesetzt. Zehntausende feierten Live-Übertragungen von Fußballspielen wie ein Rockkonzert, die Fanmeile wurde zum Synonym fröhlicher und friedlicher Sportevents. Solche wilde Wochen hatte das Land noch nie erlebt – Wochen mit südländischem Temperament und Euphorie, die sich tief ins Gedächtnis eingebrannt haben.

Unter „Public Viewing“ verstehen die Engländer die öffentliche Aufbewahrung einer Leiche. Für Deutschland erklärt der Duden denselben Begriff ganz anders: „Gemeinsames Sichansehen von auf Großbildleinwänden im Freien live übertragenen Veranstaltungen.“ Seit 2007 steht der Begriff im Hauptwerk der deutschen Sprache. Als Synonym wird „Rudelgucken“ genannt. Die korrekte englische Bezeichnung müsste „Public Screening“ lauten.

Als es das deutsche Public Viewing noch gar nicht gab, sangen die Nationalspieler alle vier Jahre einen WM-Song – meist zielstrebig an der Melodie vorbei. „Mexico mi amor“ hieß etwa 1986 der Song des DFB-Teams mit Peter Alexander. Das Kaufhaus Hertie hatte in Stuttgart große Mexiko-Hüte aufgehängt und in der Sportabteilung kleine TV-Geräte aufgestellt.

Früher war das „Rudelgucken“ oftmals ein „Schaufenstergucken“. Während wichtiger WM-Spiele drängelten sich die Menschen auf der Königstraße vor Kaufhäusern, schleckten fast deren Scheiben ab, hinter den Fernsehgeräte liefen. Auf einem Foto von der Fußball-EM 1988 sieht man einen Streifenwagen der Polizei. Die Beamten waren herangefahren, um nicht etwa die Ansammlung aufzulösen – sie stiegen aus und schauten selbst zu. Einige Kilometer weiter saßen Fans auf dem Cannstatter Campingplatz vor zwei wuchtigen Röhrengeräte, die man erhöht aufgestellt hatte.

Beim WM-Sieg der Deutschen 1954 hatten nur wenige Fans einen Fernseher

Blicken wir noch weiter zurück: Als Deutschland 1954 Weltmeister geworden ist, war das gemeinsame Anschauen und Mitfiebern unumgänglich – nämlich dort, wo es schon Fernseher gab. Denn viele Stuttgarterinnen und Stuttgart besaßen damals gar kein Gerät.

Große Fußballfeste gab es in Stuttgart auch 1974, als Deutschland zum zweiten Mal Weltmeister geworden ist – doch ohne Übertragungen auf Leinwänden. Vier Spiele liefen im Neckarstadion, denen vier rauschende „lange Nächte“ in der City folgten. Je nach dem Spiel tanzten die Menschen zu heißen Rhythmen etwa aus Argentinien oder Italien.

Am 8. Juli 1990, als in Rom die Mannschaft von Coach Kaiser zum dritten Mal für Deutschland den WM-Titel holte, hatten Scherzbolde am Schlossplatz ein riesiges Transparent gehisst. Aufschrift: „Waldmeister“. Nicht jeder nahm den Triumph so ernst. Dabei hatte auch ein Lockenkopf von hier für den Erfolg gesorgt.

VfB-Spieler Guido Buchwald wurde zwei Tage nach dem Finalsieg von OB Manfred Rommel im Rathaus empfangen. Die Fans auf dem Marktplatz wussten, was ihr „Diego“ braucht, um groß und stark zu bleiben. „Spätzle statt Spaghetti“ stand auf einem Transparent. Er möge nicht zum AC Parma wechseln, bat Rommel,was Buchwald auch nicht tat.

„Stuttgarter feiern wie Südländer“

Nach dem Halbfinale in Italien der WM von 1990 – Deutschland siegte im Elfmeterschießen über England – warfen die Leute vom Stadtradio, das im Wilhelmsbau seine Studios hatte, Reklameblätter aus dem fünften Stock. Weil es schnell gehen musste und man nicht im im Rathaus um Erlaubnis fragen konnten, bauten die Radioleute ohne Genehmigung eine mobile Disco zum Feiern unten auf dem Rotebühlplatz auf. Anderntags stand in der Zeitung: „Stuttgarter feiern wie Südländer“.

Bei der WM 2006 verfolgten regelmäßig bis zu 50 000 Menschen die Spiele beim Public Viewing auf dem Schlossplatz. Nicht nur deshalb bleibt das Sommermärchen in der Landeshauptstadt in bester Erinnerung. Aus Sicherheitsgründen werden bei der EM vom 14. Juni bis zum 14. Juli diesmal nur 30 0000 aufs Gelände vor die Riesenlände gelassen.

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