Das Ehepaar Siegfried und Selma Süss-Schülein. Foto: Ernst Grube

Das Ehepaar Selma und Siegfried Süss-Schülein wird aus Stuttgart nach Lettland deportiert. Dort verliert sich ihre Spur, doch ihre Verwandten geben nicht auf. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.

Das genaue Schicksal seiner Tante und seines Onkels war Ernst Grube, selbst Überlebender der Shoah, lange nicht bekannt. Der inzwischen 91-Jährige ist ein wichtiger Zeitzeuge der Grauen der Nazis. Zur Verlegung der Stolpersteine für seine Tante und seinen Onkel reist er 2023 aus Bayern an, um die Gedenkrede in der Eberhardstraße zu halten. Selma und Siegfried Süss-Schülein leben dort, als Hitlers Macht allgegenwärtig wird und das Ehepaar in ein sogenanntes Judenhaus in Stuttgart-Nord ziehen muss. Dieser Zwangsumzug markiert den Beginn einer langen, grausamen Reise ins Ungewisse.

Zwangsdeportation nach Lettland

Erst im November 1939 heiraten Selma und Siegfried, zwei Jahre später sind sie bereits auf dem Weg nach Riga. Zusammen mit mehr als 1000 anderen Jüdinnen und Juden werden sie am 1. Dezember 1941 vom Nordbahnhof aus nach Lettland zwangsdeportiert. Keiner von beiden wird nach Stuttgart zurückkehren.

Der Blick in die Eberhardstraße mit dem Wohnhaus der Süss-Schüleins auf der rechten Seite. Foto: Stadtarchiv Stuttgart / 101-FN250-487

Ernst Grube wächst derweil in München auf und lernt seine Stuttgarter Verwandten nicht kennen. „Nach meinem fünften Lebensjahr hatte ich durch die Verfolgung unserer Familie keine Gelegenheit mehr zu Verwandtenbesuchen“, erinnert er sich. Als seine Tante und sein Onkel nach Riga deportiert werden, ist er neun Jahre alt. Das Schicksal Selmas und Siegfrieds bleibt Ernst und seiner Mutter Clementine auch nach dem Ende des Krieges lange unbekannt. Für sie beginnt eine mühsame Suche nach den Verwandten.

Tausende Ermordungen am Blutsonntag

Ein Dokument des Amtsgerichts Stuttgart aus dem Jahr 1949 hält fest, dass die Eheleute nach Riga deportiert wurden, nicht zurückgekehrt sind und davon ausgegangen wird, dass sie im März 1942 erschossen wurden. Die Behörde erklärt alle zu diesem Zeitpunkt noch immer Gesuchten, also auch Selma und Siegfried Süss-Schülein, für tot.

Damit wollen Ernst Grube und seine Mutter sich jedoch nicht abfinden und suchen weiter nach Spuren ihrer Verwandten. Er erinnert sich gut an die Weigerung seiner Mutter, die Entscheidung der Behörde hinzunehmen: „In der Familie war diese Suche immer präsent.“ Clementine Gruber kontaktiert Suchdienste und hofft lange auf ein Lebenszeichen von Selma oder Siegfried.

Zeitzeuge Ernst Grube im Jahr 2023. Foto: Birgit Mair

Was war mit dem Ehepaar geschehen, nachdem es nach Riga deportiert worden war? Lettland ist damals von der Wehrmacht besetzt, in der Hauptstadt sind mehr als 30 000 Jüdinnen und Juden in einem Ghetto eingepfercht. Um Platz für die Neuankömmlinge aus Deutschland zu schaffen, tötet die lettische SS am Rigaer Blutsonntag und in den Tagen darauf etwa 27 500 lettische Juden in den Wäldern von Rumbula nahe Riga.

Dem Erfrierungstod nahe

Die Süss-Schüleins gehören zu den Neuankömmlingen. Sie sind Teil eines Transports, der auf einem leer stehenden Gutshof endet, das den Namen Lager Jungfernhof bekommt. Dort werden sie zusammen mit etwa 4 000 anderen Menschen aus Nürnberg, Lübeck, Wien und Stuttgart untergebracht. Die Zustände sind auch hier katastrophal. „Es fehlten die einfachsten Voraussetzungen“, berichtet Ernst Grube in seiner Gedenkrede. Ein Überlebender erinnert sich später an Temperaturen von bis zu minus 45 Grad im Lager Jungfernhof.

Die Stolpersteine in der Eberhardstraße erinnern an das Ehepaar Süss-Schülein. Foto: Heinz Wienand

Türen gibt es nicht, einen Ofen schon gar nicht. In den Fenstern sind keine Scheiben, das Dach ist nicht intakt. Der Winter ist hart. Als sich das Jahr 1941 dem Ende zuneigt und das nächste anbricht, fordern die Kälte, Erschöpfung und Mangelernährung ihren Tribut. Etwa 800 bis 900 Menschen sterben an den Folgen der unmenschlichen Unterbringung, so Ernst Grube in seiner Rede.

Erschießung bei Bikernieki

Im Januar 1942 wird dazu übergegangen, die Kranken abzutransportieren, um sie zu erschießen. Zwei Monate später, am 26. März 1942, ereilt dieses Schicksal wohl auch Selma Süss-Schülein. An diesem Tag wird eine Gruppe von etwa 1 700 Gefangenen abtransportiert. „Darunter war mit großer Wahrscheinlichkeit auch Tante Selma“, berichtet ihr Neffe.

Die abtransportierten Menschen sind geschwächt von den Bedingungen, in denen sie leben müssen, gelten als nicht mehr voll arbeitsfähig und damit für das Naziregime nur noch als Belastung. In der lettischen Provinz, einem Wald bei Bikernieki, werden die Menschen erschossen und in Massengräbern verscharrt. Ernst Grube betont, wie viel Zukunft seiner Verwandten mit ihrer Erschießung genommen wird: „Tante Selma war nicht mal 34 Jahre alt, als sie ermordet wurde.“

Selmas Ehemann Siegfried hingegen überlebt die Grauen des Jungfernhofs, nur um dann in die nächste Hölle gebracht zu werden. Ernst Grube vermutet, dass sein Onkel einige Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern in der Nähe von Riga verbringt, den KZs Kaiserwald, Kaunas und Stutthof. Von da wird er dann in ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau gebracht. Dort, in Kaufering, wird er am 1. August 1944 mit der Häftlingsnummer 86194 registriert.

Tod wenige Monate vor Kriegsende

Da Siegfried bei der Registrierung als Beruf Maurer angegeben hat, geht sein Neffe davon aus, dass er in dem Lager an den Bauarbeiten eines Großbunkers beteiligt war. Am 22. Dezember 1944 stirbt Siegfried Süss-Schülein mit 41 Jahren im Außenlager Kaufering. Somit wurde er, wie so viele andere auch, Opfer der von den Nazis angestrebten „Vernichtung durch Arbeit“.

Bis heute ist unklar, wo Siegfried Süss-Schüleins letzte Ruhestätte ist, wie Ernst Grube betont: “Wo genau er begraben ist oder ob überhaupt? Das weiß ich nicht.“ Doch der unbedingte Wille seiner Familie, die Wahrheit ans Licht zu bringen und immer wieder über Siegfried und Selma zu sprechen, verhindert das Vergessen.