Andreas Singer, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, im Gerichtssaal in Stammheim. Hier findet ab Montag das Verfahren gegen einen Teil der mutmaßlichen Rechtsterrorgruppe um Prinz Reuß statt. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

Der Präsident des Oberlandesgerichtes Stuttgart, Andreas Singer, zum beginnenden Verfahren gegen die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe um Prinz Reuß, die Renaissance von Staatsschutzverfahren und Justiz in der NS-Zeit.

Eine freie Rechtssprechung stärkt die Demokratie, sagt Andreas Singer, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart. Sie ist nach seiner Ansicht „ein wichtiger Anker, der unsere auseinanderdriftende Gesellschaft stabilisiert“.

Herr Singer, am kommenden Montag beginnt in Stuttgart ein Verfahren zur mutmaßlichen Rechtsterrorgruppe um den Prinzen Reuß. Vor welchen Herausforderungen steht Ihr Oberlandesgericht?

Die Herausforderungen des Verfahrens gegen 26 Angeklagte, das an den Standorten Stuttgart, Frankfurt und München parallel verhandelt wird, sind riesig. Es geht um eine mutmaßliche terroristische Vereinigung, die zum Ziel gehabt haben soll, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beseitigen. Nur ein Eindruck: Allein in Stuttgart haben wir eine 600 Seiten dicke Anklageschrift, mehr als 700 Leitzordner Ermittlungsakten. Dass drei Staatsschutzsenate sich mit derselben, noch nie gerichtlich festgestellten, mutmaßlichen terroristischen Vereinigung befassen müssen, ist ein Novum in der deutschen Staatsschutzgeschichte.

Das OLG Stuttgart ist sehr erfahren in Staatsschutzverfahren …

… ja, die Oberlandesgerichte generell sind erst seit 1969 für Staatsschutzverfahren zuständig. In ihren frühen Jahren haben sich die Stuttgarter Staatsschutzsenate überwiegend mit inländischem Linksterrorismus beschäftigt. Sinnbildlich steht für diese Phase das 1975 begonnene Baader-Meinhof-Verfahren gegen die führenden RAF-Terroristen der ersten Generation in Stammheim. Übrigens war damals geplant, nur diesen Prozess dort zu verhandeln und das Mehrzweckgebäude anschließend als Werkhalle für das Gefängnis zu nutzen. Es wurden jedoch bis 2019 mehr als 50 weitere Staatsschutzprozesse geführt, bevor das Gebäude nun abgerissen wird.

Der Eindruck entsteht, dass an den Gerichten wieder mehr Staatsschutzfälle verhandelt werden, bei denen der Tatort Deutschland ist.

Das ist so. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA und dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs richtete sich der Fokus der Staatsschutzsenate auf den islamistischen Terrorismus. In diesen Verfahren geht es um Gruppierungen wie den Islamischen Staat und die al-Nusra-Front. Im Zentrum stehen also ausländische terroristische Vereinigungen und Kriegsverbrechen. Seit Ende 2020 haben wir jetzt wieder eine Verschiebung. Deutschland steht wieder im Mittelpunkt. Verfahren mit Bezügen zum Rechtsextremismus und gegen Reichsbürger nehmen deutlich zu.

Warum sind diese Verfahren so spannend?

Die aktuelle Rechtsprechung der Stuttgarter Staatsschutzsenate greift die Rechtsprechung zu den RAF-Verfahren wieder auf. Der, der einen anderen Menschen tötet, um seine politischen Ziele durchzusetzen, ist ein Mörder. Er handelt aus niedrigen Beweggründen. Das hat einer unserer Senate kürzlich in einem Verfahren gegen einen Reichsbürger rechtskräftig entschieden. Der Angeklagte hat sich das von ihm frei erfundene Recht genommen, Polizisten töten zu dürfen. Er ist in einer Verkehrskontrolle auf den Beamten zugefahren und hat ihn mit seinem Auto schwer verletzt.

Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund Oberlandesgerichte für eine wehrhafte Demokratie?

Die Staatsschutzsenate sind dafür ein ganz wichtiger Bestandteil der wehrhaften Demokratie. Sie setzen unsere Rechtsordnung immer dann durch, wenn es um den Bestand und Schutz unseres Landes geht - ungeachtet von Anfeindungen und Bedrohungen. Die Richterinnen und Richter verschaffen unseren Grundrechten und Werten Geltung. Sie sind ein wichtiger Anker, der unsere auseinanderdriftende Gesellschaft stabilisiert.

Auch in Baden-Württemberg?

Hier hat die Politik diese Entwicklung früh erkannt: Mit fünf Neustellen im letzten Doppelhaushalt konnten wir in Stuttgart einen weiteren Strafsenat gründen. Wir haben jetzt sieben, von denen sich allein sechs mit Staatsschutzverfahren beschäftigen.

Gerade bei Verfahren zu rechtsextremen Fällen drängt sich die Frage auf, was Richter aus der NS-Zeit gelernt haben?

Die Justiz in der Zeit zwischen 1933 und 1945 war die Perversion eines Rechtsstaats. Sie war das absolute Anti-Bild dessen, wozu wir als Justiz verpflichtet sind. Der Volksgerichtshof und seine Sondergerichte waren blanker Terror. Sie haben alles verraten, was einen Rechtsstaat ausmacht: Menschen wurde rechtliches Gehör verweigert, ihre Verfahrensrechte wurden beschnitten. Die Gerichte waren politisch gelenkt und verhängten Todesstrafen für geringfügige Vergehen. Die Justiz hat die Menschen in einer Zeit im Stich gelassen, in der sie eine starke Justiz zum Überleben gebraucht hätten. Dass wir heute in Stuttgart nur einen Steinwurf von der Stelle, an der 423 Menschen unter dem Fallbeil starben, Recht sprechen, ist eine besondere Verpflichtung und Verantwortung.

Sie haben sich selbst intensiv mit der Rolle der Stuttgarter Justiz in der NS-Zeit auseinandergesetzt. Was bewegt Sie persönlich?

Dass sich Richter an Terror, am Verrat von Menschen und ihren fundamentalen Rechten beteiligt haben, darf sich niemals wiederholen. Nur ein paar Meter von meinem Büro entfernt wurden ab fünf Uhr morgens die Verurteilten in den Lichthof geführt und im Fünf-Minuten-Takt hingerichtet. Wenn dann die Richter und Staatsanwälte um sieben Uhr kamen, war das Blut weggespült, die Leichen weggeräumt und man ging zur Tagesordnung über. Das bewegt mich sehr.

Zumindest in der Politik begann eine Diskussion darüber, ob der Rechtsstaat gestärkt werden muss.

Bei aller Wertschätzung für politische Schwerpunkte darf es kein Abweichen, kein Relativieren geben, das den Rechtsstaat schwächen könnte. In diesen Tagen, in denen gefälschte Nachrichten und totalitäre Staaten uns bedrohen, Spionage zum Alltag gehört und unsere Gesellschaft gespalten ist wie selten zuvor, müssen Recht und Gerechtigkeit stark sein und bleiben. Recht ist nicht alles in unserem Leben. Aber ohne Recht und ohne Gerechtigkeit ist alles andere nichts. Unsere Freiheit und unsere Werte, Wohlstand und Eigentum, alles steht zur Disposition, wenn wir kein festes rechtliches Fundament haben. Das zu schützen ist die Aufgabe jedes Einzelnen. Ich wünsche mir, dass wir gerade zum 75. Geburtstag unserer Verfassung das verinnerlichen.