Der Angeklagte wird in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Foto: dpa/Christoph Schmidt

Was Yasin H. zum Rasen durch die Heilbronner Innenstadt brachte, ist schwer nachzuvollziehen. Am Ende dieser Fahrt stehen ein toter Familienvater und die Frage, ob die Tat juristisch als Mord oder Totschlag einzuordnen ist.

Die Staatsanwaltschaft wirft Yasin H. vor, am 12. Februar 2023 bei einem „Raserunfall“ schuldhaft einer jungen Frau den Ehemann genommen zu haben – und zwei kleinen Kindern den Vater. Seither sitzt er in Untersuchungshaft. In Handschellen wird er zu den Gerichtsverhandlungen in den Großen Schwurgerichtssaal des Heilbronner Landgerichts geführt.

Weil Drohungen gegen Yasin H. vorliegen, gibt es in diesem Prozess scharfe Zugangskontrollen für Zuschauer, stets sind mindestens zehn Polizisten vor Ort. In den langen Verhandlungsstunden hält der 20-jährige Angeklagte den Kopf oft gesenkt, zeigt kaum Mimik. Sein Interesse wird anscheinend nur dann geweckt, wenn es um autotechnische Details geht.

Wird der 20-Jährige noch nach Jugendrecht verurteilt?

Manchmal wechselt Yasin H. ein paar Sätze mit seiner Verteidigerin. Unter den Zuschauern sind auch seine Eltern, mit denen er nicht aktiv den Blickkontakt sucht. Weil sie selbst die Aussage verweigern, dürfen sie den Verhandlungen beiwohnen. Es geht im Prozess um die juristische Einstufung der Tat als Mord oder Totschlag – und um die Frage, ob der 20-Jährige nach Jugendstrafrecht verurteilt wird.

In der vorigen Woche waren H.s Eltern bei einer Gerichtsverhandlung im Amtsgericht Heilbronn. Der jüngere Bruder von H. war zusammen mit einem anderen Mann wegen mehrerer Autorennen angeklagt. Unter anderem war der Bruder auf der B 27 von Heilbronn nach Neckarsulm mit 270 Stundenkilometer unterwegs. Dort, wo nur 100 Stundenkilometer erlaubt sind. Im Rahmen des Jugendstrafrechts wurde er zu einem mehrmonatigen Freizeitarrest und einer hohen Geldstrafe verurteilt.

Dieser familiäre Hintergrund ist im Prozess gegen Yasin H. kaum auszublenden. Zwei Sachverständige kommen in ihrem Gutachten zu dem Schluss, dass er den tödlichen Unfall in Heilbronn mit einer Geschwindigkeit zwischen 95 bis 106 Stundenkilometern verursachte. Er fuhr mit seinem weißen BMW 640D, der über 300 PS verfügt, in einer Wohnstraße, in der eine Höchstgeschwindigkeit von 40 Stundenkilometer gilt. Unmittelbar vor dem Unfall konnte sich eine Frau beim Überqueren eines Zebrastreifens nur noch rennend retten. Sie sagt vor Gericht aus, H. habe nicht gebremst, sondern noch mehr Gas gegeben.

Den getöteten Fahrer trifft keinerlei Mitschuld

Kurz danach passiert der Unfall. Eine junge Familie plante einen Ausflug, alle sitzen angeschnallt im Auto. Der Vater fährt rückwärts aus der Ausfahrt auf die Straße – „maximal in Schrittgeschwindigkeit“, stellt ein Gutachten fest und spricht ihm damit jede Mitschuld für das ab, was sich danach ereignete. Der Vater ist auf der Stelle tot, die Mutter und die Töchter sind schwer verletzt.

Nicht nur das Gericht, auch die Öffentlichkeit will wissen, wie man Yasin H. sehen muss. Für viele, die dabei sein wollen, gibt es keine Plätze im Gerichtssaal. Auf die Frage, was H. dazu brachte, bei dieser Unfallfahrt alles zu riskieren, wird es im Prozess selbst keine Antwort von ihm geben, er hat angekündigt zu schweigen. Gegenüber der Witwe, Aniko S., hat er bisher kein Wort des Bedauerns geäußert.

Die Psychologin Karin N. von der Jugendhilfe Heilbronn hat vor dem Prozess drei Mal mit ihm gesprochen. Was sie davon vortragen kann, gerät zur Gratwanderung. Der Vorsitzende Richter Andreas Lobmüller greift während N.s Aussage immer wieder ein, um die Rechte des Heranwachsenden zu wahren. Zu erfahren ist dann doch, dass H. ihr sagte, er weine oft. Und er habe sich auch einmal bedauernd zum Unfall geäußert.

In Briefen bezeichnete der Angeklagte sich als unschuldig

Ob es Reue oder Selbstmitleid ist, bleibt offen – auch weil Richter Lobmüller zwei Briefe vorliest, die H. aus der U-Haft an seine Freundin schrieb. Mehrfach bezeichnet er sich darin als unschuldig und den Unfall als „ein Scheiß, der mir passiert ist“. Seine Unschuld habe er, so die Aussage einer Augenzeugin des Unfalls, noch am Unfallort beteuert. Eher zufällig wird bekannt, dass er von 2020 bis 2022 Mitglied im Jugendgemeinderat Heilbronns war, gewählt mit sehr hoher Stimmenzahl.

Die Verhandlungsführung des Richters fokussiert sich derzeit auf die technischen Details des Unfalls und das Umfeld von H. Dazu wird auch seine Freundin gehört, sie war als Beifahrerin dabei. Gehörte er zur in Heilbronn sehr aktiven Raser- und Poserszene? Wie war ihre Beziehung gestaltet, wie die Freizeit – so öde, dass nur das Rasen zählte? Und was geschah mit beider Handydaten im zeitlichen Umfeld des Unfalltages?

Der Richter zweifelt an der Aussage der Freundin

Die Antworten der jungen Frau dazu kommen unwillig und knapp. Sie fallen so aus, dass zuerst eine Anwältin der Nebenklage und dann Richter Lobmüller ebenfalls unwillig werden. Sie habe es satt, angelogen zu werden, sagt die Anwältin. Der Richter droht der jungen Frau schließlich mit Erzwingungshaft. Es kommt dann doch heraus, dass sie und Yasin H. ihre Handydaten noch in der Unfallnacht löschten, als beide zur Beobachtung im Krankenhaus waren. Sie waren gemeinsam in einem Zimmer untergebracht.

Am vorläufig letzten Prozesstag rückte vorige Woche die Frage nach der geistigen Reife H.s in den Vordergrund. Das war schon der Fall, als die Psychologin N. ihn mit Aussagen zitierte, in denen die „Mama“ seinen Bildungsweg bestimmte (H. kann seine Ausbildung als Kfz-Mechatroniker in der U-Haft weiterführen) und dass der „Papa“, der einen Imbiss besitzt, den BMW finanzierte. Die Verteidigerin H.s hat nun ein jugendpsychiatrisches Gutachten beantragt. Auf die Frage des Richters, ob sich ihr Mandant denn gegenüber dem dafür zu bestellenden Gutachter äußern werde, sagt sie voller Überzeugung „Ja“.