Viel los auf der Theaterhaus-Bühne: Gauthier Dance tanzt „Contemporary Dance 2.0“ von Hofesh Shechter. Foto: GD/Jeanette Bak

Wie man das Theaterhaus rockt, zeigt Gauthier Dance in „Contemporary Dance 2.0“. Mit Disco-Dancing in allen Facetten will die Kompanie auch ein junges Publikum erreichen.

Die Kunst des israelischen Choreografen Hofesh Shechter ist näher dran an den spirituellen Kräften eines Rituals als an kühler Perfektion. „Ich mag die soziale Kraft des Tanzes, der Menschen zusammenbringen kann und der in der gemeinsamen Bewegung spüren lässt, wo man herkommt“, sagte Shechter, als er sich für Gauthier Dance 2020 in Stuttgart mit dem Ballettklassiker „Schwanensee“ auseinandersetzte.

Auch eine durchtanzte Clubnacht kann die verbindende Kraft eines Rituals entwickeln. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Shechters energiegeladene Bewegungssprache und Dancefloor-Power bestens zusammengehen. „Contemporary Dance 2.0“ heißt das Resultat, das 2019 für die Tanzkompanie an der Göteborger Oper entstanden war und zu dem Shechter selbst die Musik lieferte.

Heiß wie in einer Sauna

Eine erweiterte Fassung dieses Bühnen-Raves, die Shechter für seine eigene Juniorkompanie entwickelt hatte und nun als Artist in Residence mit Gauthier Dance einstudierte, rockt im wahrsten Sinn das Theaterhaus: hämmernde Beats, lauter Sound, pulsierende Körper und Temperaturen fast wie in einer Sauna sorgten am Freitag bei der Premiere in der Halle T2 für Clubstimmung.

Furioser Auftakt

Furioser als in „Contemporary Dance 2.0“ kann der Auftakt für ein Tanzstück kaum sein. Doch als die acht Tänzerinnen und Tänzer gegen das Licht und durch den Bühnennebel von der treibenden Musik quasi aus dem Nichts herauskatapultiert werden, steht gleich zu Beginn auch das Defizit von Shechters Konzept im Rampenlicht. Eine Clubnacht ist halt nur halb so schön, wenn man sie wie das Gauthier-Dance-Publikum vom Rand aus erlebt und nicht in jedem Sinne mitbewegt wird.

Das weiß auch Shechter: Auf der Bühne wird jede, die sich wie Barbara Melo Freire aus der zuckenden Truppe entfernt und sich bäuchlings auf einen Beobachtungsposten begibt, an Händen und Füßen zurückgeschleift. Und jeder, der sich wie Gaetano Signorelli mit lockerem Schlips um den Hals als Außenseiter gebärt und immer wieder zweifelnd innehält, wird spätestens von der nächsten Bewegungswelle mitgerissen.

Nachdenklicher Kommentar

Es ist vor allem dieses Spiel mit Individuum und Gruppe, die das Salz in „Contemporary Dance 2.0“ ist. Wie Shechter die pulsierenden Menschenhaufen ballt und wieder auflöst, wie die Arme der Tanzenden in den Raum fließen, den Übergang des einen in die anderen andeuten, um dann wieder in feiner Synchronität zurückzuzucken, ist ein schönes Bild. Denn was auf den ersten Blick aussieht wie ein allein dem Tanz huldigendes Ritual, ist beim genaueren Betrachten ein nachdenklicher Kommentar auf unsere Zeit.

Wie jeder seinen Weg gehen kann

Das Vertrauen, das diese tanzende Gruppe bewegt, ist immer wieder gefährdet – von Misstrauen gegenüber der eigenen Position im Gesamtbild, die manche Tänzer fast verblüfft realisieren und ihre Freiheit reklamieren, von Misstrauen gegenüber anderen, deren Annäherungsversuche wie an einer Wand abprallen. „My Way“ singt Frank Sinatra zum Finale; davor geht es eine Stunde lang hochtourig darum, wie jeder seinen Weg gehen kann, ohne das große Ganze von der Straße abzubringen. Wie Shechter in perfekter Synchronität Raum für individuelle Varianten lässt, bleibt spannend, auch wenn „Contemporary Dance 2.0“ auf der Stelle tritt und wenig zeitgenössischen Tanz, dafür viel Disco-Dancing bietet.

„Pop“, „Mit Gefühl“, „Mutter“, „Zeitgenössischer Tanz“ und „Das Ende“ steht auf Pappschildern, die von den Tänzern hochgehalten werden und die mit fünf Kapiteln und einem Peace-Zeichen eine Erzählung suggerieren. Wer will, kann zwischen den wiegenden Hüften, spielenden Armen und fliegenden Beinen einige Pirouetten und gehockte Sprünge finden, kann aus den verfremdeten Rap-Fetzen Kritik an der Frauenverachtung dieser Musik heraushören. Eine Story erzählt Shechter zwar nicht. Doch im roten Seidenblouson und den auftrumpfenden Gesten von Shori Yamamoto spiegelt sich der pomadige Glanz von „Saturday Night Fever“, an anderen Stellen dominiert Understatement und Coolness des nächsten Jahrhunderts. Und so ist „Contemporary Dance 2.0“ auch ein sehr flotter, den Tänzern viel Gruppengefühl und noch mehr Kondition abverlangender Ritt durch die Disco-Geschichte, frei von der Düsternis und den drängenden Fragen nach dem Leben und seiner Zerstörung im Tod, die Shechters Tänze sonst bewegen.

Es liegt klar auf der Hand, wieso Eric Gauthier für die vierte Zusammenarbeit mit seinem Artist in Residence gerade dieses Stück wählte. Es eignet sich wie kaum ein anderes, um ein junges Publikum anzusprechen – ob in Schulturnhallen oder im Theatersaal. Zudem will der kreative Kopf von Gauthier Dance mit der kleinen Produktion nicht nur näher ran an das heimische Publikum. Mit „Contemporary Dance 2.0“ kann Gauthier Dance auch neue Bühnen erobern, welchen die Stuttgarter Produktionen bislang zu teuer oder zu groß waren. Im Theaterhaus gab’s dafür Jubel und Standing Ovations – da dürfte auch dem Tour-Erfolg nichts im Wege stehen.

Info

Termin
Weitere Vorstellungen gibt es bis zum 8. Juli. Getanzt wird „Contemporary Dance 2.0“ im kleineren Theaterhaus-Saal T2.

Künstler
Hofesh Shechter, 1975 in Jerusalem geboren, studierte an der Tanz- und Musikakademie seiner Heimatstadt, bevor er Mitglied der Batsheva Dance Company in Tel Aviv wurde. Über ein Schlagzeugstudium in Paris führte sein Weg nach London, wo er 2008 eine eigene Kompanie gründete. Shechters Tanzstücke zeichnet eine intensive Körperlichkeit aus wie in „Grand Finale“, 2017 zu Gast beim Colours-Festival. Shechter ist seit 2021 Artist in Residence von Gauthier Dance. 2022 spielt der Choreograf in Cedric Klapischs Kinofilm „Das Leben ein Tanz“ sich selbst.