Goldenes Konfetti als Symbol für eine falsche Glitzerwelt. Foto: Osswald - Osswald

Ein Poetry-Slam der etwas anderen Art hat sich kürzlich im Komma abgespielt. Das Stück zeigte: Niemand ist vor Manipulationen sicher.

EsslingenUnsicher betritt Jonas die Bühne und greift nach dem Mikrofon. Der große, muskulöse Mann mit Brille und Wollmütze ist sichtlich nervös. Deshalb bittet er seine Freundin Marja, ihrerseits peinlich berührt, auf die Bühne. Was nun folgt, hat wohl keiner im Saal erwartet: Nach einer geradezu kitschigen Liebeserklärung macht Jonas ihr einen Heiratsantrag. Vor den Augen des Moderators, des Publikums, im grellen Scheinwerferlicht. Marja ist jedoch mehr als überrumpelt, schreit ihn an, verlässt wutentbrannt den Raum. Antragssteller Jonas rennt ihr noch verzweifelt hinterher.

Zuschauerinnen und Zuschauer sind sprachlos. Langsam ahnen sie, dass es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Poetry Slam handelt. Denn dieser Donnerstagabend im Komma Esslingen war ein absolutes Novum. Ein „unterwanderter“ Poetry Slam, ein Theaterstück über Wirklichkeit und Fiktion. Angekündigt wurde die Veranstaltung als regulärer Poetry Slam-Abend. Was ist eigentlich Realität, was Wahrheit? Ist es nicht leichtsinnig zu glauben, dass immer nur „die Anderen“ anfällig für Manipulation und Beeinflussung sind? Das waren die zentralen Fragen, mit denen sich das „verdeckte“ Theaterstück „Poetry Slam!“ an diesem Abend beschäftigte. Die Besucherinnen und Besucher erlebten einen bizarren Bühnenabend. Bei dieser beliebten Form der Kleinkunst toben sich Hobbyschreiber und Wortakrobaten auf der Bühne aus.

Das Stück war ein Wagnis, ein gesellschaftliches Experiment, ein vorgehaltener Spiegel. Der Autor Nikita Gorbunov musste eine Gratwanderung bewältigen. Zusammen mit Boglárka Pap leitete er das „Projekt“, wie er es nennt. Gorbunov inszenierte absichtlich Fake News – beim Betrachten der obskuren Szenerie erinnerte das Schauspiel an das berühmte Hörspiel „War of the Worlds“ („Krieg der Welten“) des Filmemachers Orson Welles. 1938 spielte Welles mit einem Radio-Ensemble eine fiktive Invasion von Marsbewohnern auf der Erde nach. Menschen in den USA fielen in Panik, versteckten sich tagelang in Häusern.

Sicher, niemand rannte aus dem Saal des Komma. Doch das Stück zeigte, dass niemand vor Manipulation sicher ist – auch nicht ein vermeintliches Bildungspublikum. „Wir wollten nicht nur ein moralisches Stoßgebet lostreten, sondern Mechanismen aufzeigen, zum Denken anregen“, sagte Gorbunov. Dabei hatte er stets die Ungewissheit im Nacken, dass das Ganze nach hinten losgehen könnte. Irritierte oder entnervte Menschen im Publikum, die ihr Geld zurückverlangt hätten. Aber so kam es nicht.

Dennoch gab es Herausforderungen: Am Tag vor der Aufführung fiel einer der Schauspieler aus. Jonas Bolle wurde kurzfristig durch Gideon Rapp ersetzt, der quasi über Nacht seinen Text lernen musste – den Namen des verhinderten Jonas jedoch beibehielt. Der Triumph des US-Präsidenten Donald Trump, ein Zuwachs an rechtspopulistischen Strömungen in der EU: All das sei Ausdruck einer Bevölkerung, die zunehmend in ihrer eigenen Filterblase gefangen sei, so Gorbunov. „Die Szenerie ist ein großes Gleichnis für Social Media, eine Filterblase des Falschen, der sich die Zuschauer nicht entziehen können“, so der Poetry Slammer und Musik-Kabarettist.