Zia, Waleed, Habib und Mohamed (von links) sind in der Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen bei Andreas Wolf (MItte) untergekommen. Alle teilen ein Schicksal: Sie kamen mutterseelenallein in Deutschland an.Foto: Bail Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Waleed ist 16 und kommt aus Pakistan. Seit wenigen Tagen ist der junge, schmale Flüchtling in der Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen. Seine Stimme ist so leise, dass man ihn kaum versteht, wenn er auf Englisch erklärt, dass er mit einem Lastwagen, in dem 16 weitere Flüchtlinge zusammengepfercht waren, von Griechenland nach Deutschland gekommen ist. Auch Zia, Mohamed und Habib sprechen auffallend leise, wenn sie sagen, dass hier alles wunderbar sei. Die Jungs aus Gambia und Afghanistan teilen das gleiche Schicksal. Sie sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - junge Menschen, die mutterseelenalleine vor den Todesdrohungen in ihrer Heimat in ein fremdes Land, in eine fremde Kultur, geflohen sind in der Hoffnung auf eine Zukunft.

Laut Siegfried Stark, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen, leben im Landkreis Esslingen derzeit mehr als 60 minderjährige Flüchtlinge ohne Eltern. Der Jugend- und Heimerzieher Andreas Wolf arbeitet pädagogisch im Team der Kinder- und Jugendhilfe. Ein anspruchsvoller Job. Der 52-Jährige kennt Jugendliche, die zweieinhalb Jahre auf der Flucht waren, bis sie auf den Fildern strandeten. Die meisten sind ein halbes Jahr unterwegs. Wenn ihnen das Geld ausgeht, arbeiten sie und ziehen dann weiter zur nächsten Etappe. Einige kommen mit dem Flugzeug, viele per Schiff über die Mittelmeerroute oder wie Waleed mit dem Lkw.

Traumatisiert und gezeichnet

Es sind oft schwer traumatisierte junge Menschen, die völlig erschöpft und gezeichnet sind von den Strapazen der Flucht und den schrecklichen Erlebnissen in ihren Ländern. Manche sind krank, haben Schmerzen und es gibt Kriegswaisen, um die sich Wolf und seine Kollegen kümmern. Bereichsleiterin Sabine Schöning-Müller erzählt von drei Geschwistern aus Afghanistan. Das jüngste war sechs Jahre alt war. Die Mutter ist in Griechenland gestorben, der Vater war noch dort. Das Gros der Jugendlichen, die derzeit in Neuhausen leben sind 16 und 17 Jahre alt und kommen aus allen sozialen Schichten, aus Afghanistan, Syrien oder Pakistan.

Seit vielen Jahren nimmt die Einrichtung des Sozialdienstes katholischer Frauen der Diözese Rottenburg-Stuttgart minderjährige Flüchtlinge auf, die ohne Begleitung ankommen. „Früher hielt sich die Zahl mit ein bis zwei Personen in Grenzen“, sagt Stark. Seit 2011 wurden die Jungen und Mädchen nicht mehr in die Erstaufnahmestelle nach Karlsruhe gebracht, sondern mussten betreut werden, wo sie auftauchten. Inzwischen sind es so viele, dass die Stiftung Jugendhilfe aktiv Region Esslingen und die Stiftung Tragwerk Kirchheim Minderjährige aufnehmen. Prognose steigend. „Das Land muss Quoten erfüllen.“ Stark ist sicher, „dass noch einiges auf den Landkreis zukommen wird.“

Es sind eher Jungs, die von ihren Familien alleine auf die Flucht geschickt werden. „Für Mädchen ist das zu gefährlich“, weiß Schöning-Müller. Trotzdem leben in Neuhausen ein 17-jähriges und ein 18-jähriges Mädchen aus Afrika und eine 16-Jährige aus Afghanistan. Bis auf wenige, die äußerst traumatisiert sind, erzählen die jungen Menschen von ihrem Schicksal. „Es ist eine Erleichterung für sie“, sagt Wolf. Er weiß, wie wichtig es ist, die Details der Fluchtgründe und des Wegs für die Asylanhörung exakt aufzuschreiben. Die Wartezeit von einem Jahr von der Antragstellung bis zur Anhörung ist so lange, dass viele Details verloren gehen. Bis zur Entscheidung, ob sie einen nachgeordneten Aufenthaltstitel bekommen, der sie berechtigt in Deutschland zu bleiben, dauert es ein weiteres Jahr.

Diese zwei Jahre werden in der Kinder- und Jugendhilfe Neuhausen intensiv genutzt, um die jungen Menschen für ein Leben in Deutschland fit zu machen. „Die einzige Chance, ein Existenz aufzubauen, geht über die Schule“, sagt Müller-Schöning. Deshalb lautet der Dreiklang Sprache lernen - Schulabschluss - Ausbildung. Ihre Erfahrung: „Es sind alles Jugendliche, die darauf drängen, in die Schule zu gehen, die ehrgeizig sind.“

Deshalb sei es wichtig, so schnell wie möglich eine Tagesstruktur zu schaffen - auch, damit die jungen Flüchtling nicht so viel Zeit zum Grübeln haben, sondern den Blick in die Zukunft richten. Die jungen Leute wüssten von dem Schutzraum, den man ihnen biete. Schöning-Müller betont, dass die Jungen und Mädchen ein Sicherheitsgefühl entwickeln und lernen müssten, zu vertrauen. Kriminalität gibt es so gut wie nicht in Neuhausen. Bei 80 Jugendlichen seit 2011 hat Wolf je eine Anzeige wegen eines Ladendiebstahls und wegen einer geklauten Schachtel Zigaretten auf dem Schreibtisch gehabt.

Standards sollen erhalten bleiben

Alle bekommen ein Einzelzimmer und leben in Gruppen mit sechs bis acht Personen, je nach Alter und Geschlecht. Küche, Bad und Wohnesszimmer sind für alle. Die Älteren kochen gemeinsam. Man hat in der Kinder- und Jugendhilfe einen Standard entwickelt, den man beibehalten möchte. Deshalb sucht man dringend eine Immobilie für zusätzliche Wohngruppen.

Ziel ist es, dass die jungen Menschen ohne Hilfe auskommen. Deshalb werden sie auf die Selbstständigkeit vorbereitet. Dringenden politischen Handlungsbedarf sieht Stark in der Frage des Unterhalts. Gehen die Flüchtlinge zur Schule, bekommen sie vom Jobcenter kein Geld und haben keinen Anspruch auf Bafög. „Sie fallen durch alle Raster.“ Nur in der Kinder- und Jugendhilfe ist der Unterhalt gesichert. Wolf und Kollegen helfen bei der Wohnungssuche wie bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Den Hauptschulabschluss haben fast alle Flüchtlingskinder nach zwei Jahren, manche sogar Mittlere Reife oder Fachhochschulreife. Ein langjähriger Schützling macht eine Ausbildung als Anlagenelektriker in Stuttgart, ein 19-jähriger Afghane startet eine Lehre als Raumausstatter in Wolfschlugen, eine Afghanin hat mit der Ausbildung zur Arzthelferin begonnen. Prima sei es, wenn die Jungen und Mädchen in Vereinen aktiv sind. Ein junger Mann fand über den Fußballverein eine Wohnung, ein anderer über den Job in einer Nürtinger Pizzeria. „Vorurteile werden durch Integration abgebaut“, so Schöning-Müller, die zwei Mädchen aus Afrika und Afghanistan in der Gruppe hat, die ebenfalls im Fußballverein spielen. Ein junger Afghane hat es im Taekwondo sogar bis zur Europameisterschaft gebracht.

Kreis Stößt an Grenzen

Laut Sozialdezernentin Katharina Kiewel befanden sich 2014 über das Jahr 36 unbegleitete junge Flüchtlinge im Landkreis Esslingen, von denen zum 31. Dezember noch 27 Jugendhilfeleistungen erhielten. Seit Jahresbeginn sind 45 neue Flüchtlinge durch direkte Ankunft im Landkreis oder durch Zuweisung des Regierungspräsidiums Karlsruhe hinzugekommen. Zum 31. Juli erhielten 63 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Jugendhilfe. Es sind fast ausschließlich Jungen, überwiegend aus Afghanistan, Jemen, Syrien, dem Nordirak, Erithrea und Gambia. Derzeit sind 12 Personen unter 16 Jahre, 37 Personen zwischen 16 und 18 Jahre und 14 Personen über 18 Jahre alt. Auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres besteht ein Anspruch auf Jugendhilfe, dann in Form der Hilfe für junge Volljährige. Das Familiengericht bestellt für jeden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling einen Vormund. Dieser vertritt ihn bei der Wahrnehmung seiner Rechte, indem er etwa für den Flüchtling Hilfe zur Erziehung beantragt, den Antrag auf Asyl stellt und bei allen Entscheidungen für das zukünftige Leben des Jugendlichen einbezogen wird.

Nach Angaben Kiewels ist die Kapazität für die Aufnahme weiterer junger Flüchtlinge nahezu erschöpft. Gerade wegen der personalintensiven Betreuung und beispielsweise der Notwendigkeit, bei vielen Gesprächen Dolmetscher hinzuzuziehen, sagt die Sozialdezernentin: „Wir werden mittelfristig den Bezirkssozialdienst ausbauen müssen, damit das sogenannte Wächteramt der Jugendhilfe ausgefüllt werden kann.“ Sorgen bereite ihr auch, dass günstiger Wohnraum fehle, in dem die jungen Menschen im Anschluss betreut werden können.