Foto: epd/Seacia Pavao

Ein Lehrer und ein Schüler sitzen in den Weihnachtsferien im Internat fest in Alexander Paynes historischer Tragikomödie „The Holdovers“.

Wo in der Zeit er gerne hinreisen würde, wird der Geschichtslehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) gefragt. Die Antwort: „Karthago, das heute natürlich Tunesien ist.“ Hunham lebt in der Vergangenheit, bevorzugt in einer, von der nur Ruinen übrig sind. Im Jungeninternat in Massachussetts traktiert er die Schüler mit den Punischen Kriegen und schweren Klausuren. Er glaubt, klassische Bildung wäre alles; dass ihn deshalb niemand mag, trägt er wie eine Monstranz vor sich her.

Hunham wohnt sogar in der Schule, er ist fast schon verwachsen mit dem altehrwürdigen Ostküstengebäude, in dessen leicht angestaubten Räumen sich seine innere Erstarrung spiegelt. Gern überlassen die Kollegen Hunham die ungeliebte Weihnachtsferien-Aufsicht über jene Schüler, die aufgrund sehr unterschiedlicher familiärer Probleme nicht nach Hause fahren können. Über den Jahreswechsel 1969/1970 arbeitet er sich an einem „holdover“ (Überbleibsel) ganz besonders ab: Der aufsässige Angus Tully (Dominic Sessa) kompensiert seine traumatische Vaterlosigkeit mit sarkastischen Sprüchen und spontanen Dummheiten.

Besserwisser, Klugscheißer, Korinthenkacker

Marcel Pagnols ähnlich gelagerte französische Internatsfilmkomödie „Merlusse“ von 1935 habe ihn inspiriert, sagt der feinsinnige US-Independent-Regisseur Alexander Payne. Er hat schon mit George Clooney auf Hawaii das Familien- und Immobiliendrama „The Descendants“ (2011) gedreht, mit Paul Giamatti das Roadmovie „Sideways“ (2004). Darin spielte dieser einen Spießer, der den Männerurlaub zum Junggesellenabschied eines Freundes mit Weinproben im nordkalifornischen Wine Country verbringen möchte – doch der Bräutigam bevorzugt wilde Eskapaden.

Nun gibt Paul Giamatti eine andere Art von Nervensäge: Er macht aus Paul Hunham einen ultimativen Besserwisser, Klugscheißer, Korinthenkacker. Herrlich die verständnislosen Blicke, wenn er an einer Bar triumphierend das historische Halbwissen zweier Angetrunkener korrigiert. Dass er überhaupt ins pralle Leben hinausgekommen ist, verdankt er Tully, der ihn zu einer Exkursion nach Boston überredet hat – und prompt ausreißt. Sessa transportiert die Testosteron-Unrast und die Melancholie des Heranwachsens in jedem Blick, jeder Geste.

Erstaunlich aktuell

Zur heimlichen Hauptfigur wird die schwarze Schulköchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), die den persönlichen Dramen eine politische Ebene einzieht. Sie hatte nicht das Geld, ihrem hochtalentierten Sohn das College zu bezahlen, das ihn vom Militärdienst befreit hätte – er zog in den Vietnamkrieg und kehrte nicht zurück.

Überlebensgroß wird dieses Drama in dem Moment, in dem den beiden weißen Männern klar wird, was diese Afroamerikanerin durchmacht, was es bedeutet, in den von Rassismus durchzogenen USA einer Minderheit anzugehören. Mary schiebt das Unglück zunächst schnippisch beiseite, doch irgendwann übermannt es sie. Da’Vine Joy Randolph hat einen grandiosen Auftritt nach dem nächsten und ist für einen Oscar nominiert – so wie auch Giamatti für seine Hauptrolle.

Die amüsante, anrührende und erstaunlich aktuell anmutende Tragikomödie mag Alexander Payne vielleicht ein wenig zu lang geraten sein – Freundinnen und Freunde des Arthaus-Kinos alter Schule werden sie aber lieben.

The Holdovers. USA 2023. Regie: Alexander Payne. Mit Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da’Vine Joy Randolph. 133 Minuten. Ab 12 Jahren