Unser Korrespondent sieht es ein wenig anders: Alkoholismus, Übergewicht und Einsamkeit gehören auch zum finnischen Leben.
Finnland – zum sechsten Mal hintereinander im „Weltglücksbericht“ das „glücklichste Land der Welt“. Aber stimmt das eigentlich? Das Ergebnis des Reports wird von den Medien in Deutschland gerne gefeiert – mit entsprechenden Geschichten über entspannte Saunagänger, glasklare Seen und neckische Rentiere.
Die „Tagesschau“ berichtet aktuell aus Helsinki und weiß zu erzählen, dass die Lebensqualität dort den Betrachter „förmlich anspringt“. Hinterfragt wird das Ergebnis in den meisten Beiträgen nicht, sondern durch sogenannte Expertenmeinungen belegt.
Der Finne jammert nicht herum
Hingegen wird die Auszeichnung in den finnischen Medien eher lakonisch vermerkt. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen Yle wies am Dienstag sogar auf Kritik an der Methodik des UN-Berichts hin.
Persönlich gesagt: Wer öfter Ende November erlebt hat, wie in Finnland der ohnehin trübe Himmel schon um die Mittagszeit noch trüber wird; wer den typischen Geruch von kaltem Zigarettenrauch und Alkohol im öffentlichen Nahverkehr unter den schweigenden Menschen spürt, dem kommen leichte Zweifel an dem Hype um das Glück „Made in Finland“. Gut möglich also, dass ein recht verbreiteter finnischer Charakterzug dazu führt, dass die Umfragen so ausfallen, wie sie eben ausfallen: Typisch finnisch nämlich ist es, nicht herumzujammern.
Wohlfahrtsstaat und kaum Korruption
Man ist stolz auf seine Armee, die sich durch besondere Zähigkeit und Ausdauer auszeichne. „Finnen haben keine Angst“, beschied angesichts der russischen Gefahr Staatspräsident Sauli Niinistö kürzlich einem amerikanischen Journalisten. Das hört sich aber auch ein wenig nach einem Emotionsverbot an. Kurzum: Wer Finnen nach ihrem Befinden befragt, wird fast ausschließlich eine positive Antwort hören. Dabei gibt es nichts daran zu deuteln, dass Finnland regelmäßig tatsächlich die Grundlagen für eine hohe Lebensqualität schafft: Es gibt einen Wohlfahrtsstaat, und Finnland ist nach dem Weltkorruptionsindex das Land, in dem Bakschisch am wenigsten vorkommt.
Steigende Immobilienpreise, hohe Scheidungsrate
Andere Fakten gibt es aber auch: Rund 23 Prozent der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt, damit ist Finnland nach Italien die am meisten überalterte Gesellschaft in Europa. Die Babyboomer gehen in Rente, und es kommt wenig Nachwuchs hinterher – die Geburtenrate geht rapide zurück und liegt derzeit bei 1,33 Kindern pro Frau. Lokalen Untersuchungen zufolge gibt es sehr hohe Immobilienpreise in den größeren Städten, denen eine extreme Landflucht geschuldet ist. Auch die hohe Scheidungsrate (von 100 Ehen werden 61 geschieden) bewegt vor allem Männer dazu, sich mit der Familiengründung zurückzuhalten.
Zudem fühlt sich nach Angaben des Roten Kreuzes jeder dritte Bewohner einsam. Fettleibigkeit, Nikotinsucht und Alkoholismus sind weitverbreitet: Unter 5,5 Millionen Einwohnern gibt es etwa 400 000 Alkoholiker, von denen rund 300 000 arbeiten – das sind zehn Prozent der berufstätigen Erwachsenen. Mag sein, dass der internationale Hype im gekrönten Land deswegen nicht so sehr gefeiert wird – von der Tourismusbranche mal abgesehen.