Hansi Flick verzweifelt am Spielfeldrand beim 1:4 gegen Japan Foto: imago//David Inderlied

Der Offenbarungseid gegen Japan macht deutlich: Die deutsche Nationalmannschaft braucht einen Neuanfang – ohne Bundestrainer Hansi Flick.

Es kommt nicht so oft vor, dass sich an einem Sonntagmorgen im Wolfsburger Hauptbahnhof eine lange Schlange lauter glücklicher Japaner vor der einzigen Backstube bildet. So mancher brachte zum Leidwesen fleißiger Verkäuferinnen im eigenartigen Kauderwelsch noch Sonderwünsche vor, aber wer konnte ihnen das verdenken? Am Sitz des größten deutschen Autobauers hatten ihre asiatischen Lieblinge bemerkenswerte Fortschritte aufgeführt und gleichzeitig ganz Deutschland vor die große Sinnfrage gestellt: Ist die Fußball-Nationalmannschaft vielleicht sogar gerade das Spiegelbild dafür, wie in vielen Bereichen der Anschluss an die Weltspitze verloren geht?

Im Profifußball sei „viel Dynamik drin“, merkte Flick selbst an

Die gellenden Pfiffe in der Autostadt für die Demontage des vierfachen Weltmeisters gegen die schon bei der WM siegreichen Japaner (1:4) gaben Zeugnis für die Endzeitstimmung, die sich neun Monate vor einer Europameisterschaft im eigenen Land wie Mehltau über das entzauberte Aushängeschild des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gelegt hat. Bundestrainer Hansi Flick kann eigentlich nicht mehr bleiben. Aktuell verkörpert seine Mannschaft nicht mal mehr Mittelmaß, die sich gegen Polen, Kolumbien und Japan mit Ansage vorne festrennt, hinten stolpert – und am Ende verdient verliert. Der schon ohne Kompass durch die katarische Wüste irrende Bundestrainer hat mit Blickrichtung für die Heim-EM den Kredit aufgebraucht. Ohne den tüchtigen Torhüter Marc-André ter Stegen hätte es die höchste Heimniederlage seit einem denkwürdigen 1:5 gegen England im Münchner Olympiastadion 2001 gegeben.

Teamchef war damals jener Rudi Völler, der als Sportdirektor am Sonntagvormittag bei strahlendem Sonnenschein zu einem öffentlichen Training im Stadion neben der Arena 2376 Fans begrüßte – weniger, als hier bei einem Heimspiel der Frauen des VfL Wolfsburg kommen. „Selbstverständlich, dass wir uns hier stellen“, rief Völler, während Flick beim Autogrammeschreiben versprach: „Ich fighte weiter!“ Der 58-Jährige ahnt natürlich längst, dass er als Fußballlehrer auf Abruf arbeitet. Im Profifußball sei „viel Dynamik drin“, merkte Flick zuvor selbst an.

Die Öffentlichkeit hat ohnehin längst vom Flick-Werk genug

Selbst Völler hatte sich so „schockiert“ gezeigt, dass er in der Nacht keine Jobgarantie für den Bundestrainer mehr aussprach. Man müsse sich „erst einmal sammeln und beruhigen“. Auch der 63-Jährige hat seinen Schutzschild also weggezogen. Die Indizien sind erdrückend, dass der Nachfolger von Joachim Löw wohl beim Länderspiel gegen Frankreich in Dortmund (Dienstag 21 Uhr/ARD) seine Abschiedsvorstellung gibt.

Nach der fürchterlichen Lektion vom Mittellandkanal behauptete er in Verkennung der Realitäten, dass sein Trainerteam sich wenig vorzuwerfen hätte: „Ich finde, wir machen das gut, und ich bin der richtige Trainer.“ Man müsse verstehen, dass „Japan toll ausgebildete Fußballer hat – sie haben die Basics drauf“. Und seine beim FC Barcelona oder FC Arsenal, FC Bayern und Borussia Dortmund angestellten Stars nicht mehr? Es sind auch solche sonderbaren Erklärungen, die den der floskelhaften Rhetorik überführten Bundestrainer selbst im Verband isolieren. Die Öffentlichkeit hat ohnehin längst vom Flick-Werk genug. So viel Gespür müssten DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Liga-Boss Hans-Joachim Watzke mitbringen, dass es schleunigst einen Neuanfang braucht.

Sofort verfügbar wäre Julian Nagelsmann

Mehrere Optionen werden dem Vernehmen nach im Verband diskutiert, der sich am Sitz des DFB-Sponsors zur Krisensitzung versammelte: Am wahrscheinlichsten ist, dass Matthias Sammer bis zur EM übernehmen soll – auch wenn der als Berater bei Borussia Dortmund eingebundene „Feuerkopf“ seit fast zwei Jahrzehnten kein Team mehr trainiert hat. Danach würde sich der DFB ernsthaft um Jürgen Klopp bemühen, der bis 2026 an den FC Liverpool gebunden ist.

Wenn sich solche Pläne nicht realisieren ließen – beide würde Watzke maßgeblich über sein (BVB-)Netzwerk vorantreiben –, könnte ab 2024 auch Ralf Rangnick zum Thema werden, der erst einmal Österreich zur EM nach Deutschland führen will. Den schwäbischen Projektleiter wollte vor zwei Jahren der machthungrige Ex-Direktor Oliver Bierhoff nicht holen. Sofort verfügbar wäre Julian Nagelsmann, nach seiner Freistellung beim FC Bayern ohne Anstellung. Intern macht als letzte Option noch ein Notfallplan mit dem beim Hamburger SV eingebundenen Menschenfänger Horst Hrubesch die Runde. Und wie wäre es mal mit einem Blick über die Landesgrenzen?

Wenn die Franzosen ein bisschen Ernst machen, setzt es noch eine Lehrstunde

Neuendorf und Watzke haben nach der WM den Schnitt versäumt. Die zuletzt über den Kinderfußball streitenden Bosse von DFB und DFL verfolgten mit versteinerten Mienen, wie die taktisch und technisch perfekt aufeinander abgestimmten Gäste aus Fernost die fast lächerliche deutsche Abwehrhaltung bestraften, in der sich das nächste sinnfreie Experiment mit Nico Schlotterbeck als Linksverteidiger zum Rohrkrepierer auswuchs.

Wenn die Franzosen an diesem Dienstag nur ein bisschen Ernst machen, setzt es gleich noch eine Lehrstunde für eine tiefverunsicherte Mannschaft, der es an Haltung und Zusammenhalt, Autorität und Automatismen mangelt. Wer gedacht hätte, mit dem Ende der Flick’schen Experimentierreihe würde alles besser, sah bloß ein paralysiertes Ensemble, das seit der WM in elementaren Bereichen noch schlechter geworden ist.

Spätestens zur USA-Reise im Oktober dürfte es einen neuen Bundestrainer geben

„Es ist offensichtlich, dass wir gerade nicht gut genug sind, vielleicht denken wir auch, dass wir besser sind, als wir eigentlich sind“, sagte Ilkay Gündogan. Der neue Kapitän leitete aus dem fatalen Trend folgerichtig ab: „Irgendwann liegen Anspruch und Realität so weit voneinander entfernt, dass man akzeptieren muss, dass man gerade nicht gut genug ist.“ Der 32-Jährige ist nur eine von vielen internationalen Topkräften, die im Trikot mit dem Bundesadler zum Mitläufer verzwergen. Der degradierte Joshua Kimmich merkte an, dass „wir seit der WM kein gutes Spiel gemacht haben“. Nach seinem 80. Länderspiel als Rechtsverteidiger wirkte der 28-Jährige schwer genervt: „Wir sprechen immer nur darüber, dass wir sehr viel Qualität haben, aber wir sehen sie nicht.“ Als erste Konsequenz dürfte es spätestens zur USA-Reise im Oktober einen neuen Bundestrainer zu sehen geben.