Rugiatu Neneh Turay musste zusehen, wie eine Cousine verblutete. Seitdem kämpft sie gegen Beschneidungen. Foto: oh - oh

Rugiatu Neneh Turay musste zusehen, wie ihre Cousine bei der Beschneidung verblutete. Nun wird sie für ihren mutigen Kampf gegen dieses unmenschliche Ritual ausgezeichnet.

EsslingenRugiatu Neneh Turay aus Sierra Leone wird mit dem „Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit – Internationaler Menschenrechtspreis der Stadt Esslingen am Neckar“ ausgezeichnet. Der Preis ist mit 10 000 Euro dotiert, die Preisvergabe findet am Samstag, 24. Oktober 2020 statt.

Rugiatu Neneh Turay wird für ihr Engagement und ihren Einsatz für die Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung (female genital mutilation, FGM), die in Sierra Leone noch legal ist und weitgehend praktiziert wird, ausgezeichnet. Mit ihrer Arbeit und ihrer politischen Aktivität bestärkt sie Frauen und Kinder darin, missbräuchliche traditionelle Praktiken wie das Beschneiden weiblicher Genitalien aus kulturellen Gründen eigenverantwortlich infrage zu stellen.

Indem sie Rugiatu Neneh Turay den Theodor-Haecker-Preis zuerkennt, richtet die Stadt Edas Augenmerk auf die dringend aufklärungsbedürftige Menschenrechtsverletzung der weiblichen Genitalverstümmelung. Die Würdigung bietet die Chance, über das Thema im eigenen Lebensumfeld zu reflektieren; denn, dass FGM vor allem Afrika betrifft, ist ein Irrglaube – die Zahl der davon betroffenen oder bedrohten Mädchen steigt auch in Deutschland jedes Jahr, wie eine aktuelle Statistik von Terre des Femmes bestätigt. Im Zusammenhang mit dem „Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung“ am 6. Februar gewinnt die Vergabe des Internationalen Menschenrechtspreises der Stadt Esslingen am Neckar an Rugiatu Neneh Turay zusätzlich an Bedeutung.

Nachdem sie zusehen musste wie eine Cousine nach ihrer Beschneidung verblutete, beschloss Rugiatu Neneh Turay, aktiv zu werden. 2002 gründete sie gemeinsam mit anderen Frauen die Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM), die seither Aufklärungskampagnen zu FGM leistet, Unterkünfte für Opfer organisiert und die Beschneiderinnen in Workshops anleitet, alternative Verdienstmöglichkeiten zu entwickeln. Außerdem gründete sie mit fünf anderen Frauenrechtsgruppen in Sierra Leone das Forum Against Harmful Traditional Practices (FAHTP). Rugiatu Neneh Turay ist eine führende Persönlichkeit im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung in Sierra Leone, die Frauenrechte auch im politischen System des Landes vertritt und voranbringt. Im November 2017 wurde sie, nachdem sie Korruptionsvorwürfe innerhalb des Ministeriums öffentlich gemacht hatte, aus ihrem Amt als stellvertretende Ministerin für Soziales, Geschlechter- und Kinderfragen entlassen. Trotz des großen Fortschritts in Sachen Frieden nach dem Ende des Bürgerkriegs 2002 werden einige Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten noch immer mit Angriffen konfrontiert. Auch Rugiatu Neneh Turay hat in den vergangenen Jahren wegen ihres Engagements Todesdrohungen erhalten.

Die Ehrengabe zum Theodor-Haecker-Preis 2020 erhält das Jugendhaus Komma für die Durchführung der Internationalen Wochen gegen Rassismus. 2019 hat die Esslinger Einrichtung dieses Format – eine bundesweite Initiative der Stiftung gegen Rassismus – zum ersten Mal nach Esslingen am Neckar gebracht und setzte damit ein klares Zeichen gegen Menschenverachtung und für Toleranz. Mit Podiumsdiskussionen, Konzerten, Vorträgen, Filmvorführungen und vielen weiteren Formaten wurden Interessierte vernetzt und das umfassende Wirkungsgebiet des KOMMAs in Esslingen – von Jugendarbeit zu politischer Bildung zu Kultur – widergespiegelt. Das Programm bewies das besondere Gespür der Initiatoren für die Situation: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zeigen sich auch in Esslingen. Unter anderem Reaktionen wie Vandalismus an Plakaten zu der Aktion machen deutlich, dass Projekte und Bildungsprogramme wie die Internationalen Wochen gegen Rassismus wichtig sind. Mit einer Theodor-Haecker-Ehrengabe kann beispielsweise eine Person oder Gruppe ausgezeichnet werden, die sich auf besondere Weise mit Themen wie Radikalismus, Gewalt, Frieden oder Diktatur auseinandergesetzt hat.

Der Theodor-Haecker-Preis zählt zu den am höchsten dotierten Auszeichnungen seiner Art in Deutschland. Er ist nach Theodor Haecker benannt, der 1879 in Eberbach geboren wurde und später in Esslingen lebte. Während des Nationalsozialismus war Haecker mit Rede- und Publikationsverbot belegt. red