Früher dienten diese heutigen Mauerreste mitten auf dem Schurwald wohl als geheimer Treffpunkt für Verfolgte. Sie sollen dort ein bestimmtes Ritual zelebriert haben. Unsere Serie über geheimnisvolle Orte in der Region
Bewölkter Himmel, trübes Wetter, der Schotterweg ist ebenso wie der Waldboden mit einer Laubschicht bedeckt. An einer Wegbiegung schaut ein Stück eines gemauerten Rundbogens zwischen den Blättern hervor. Wer innehält und sich umsieht, wird noch mehr historische Spuren entdecken. Ein Stück oberhalb steht ein Gedenkstein mit einer Aufschrift – und von diesem aus fällt der Blick auf eine Kammer aus Sandsteinen, in der Wasser steht. Auch Reste von Steinblöcken sind zu sehen.
Der Lost Place Bruderhaus-Ruine liegt nahe beim Katzenbühl
Deuten diese Mauerreste auf alte Keller hin? Oder auf ein ehemaliges Jagdhaus? Tatsächlich muss man rund 500 Jahre zurückblicken, um auf die Geschichte dieses Ortes in Kernen-Stetten zu stoßen. Er liegt im Wald nahe der Markungsgrenze zu Esslingen und dem Katzenbühl und ist als Naturdenkmal eingestuft. „Das Bruderhaus“, wie es heißt, soll bis Mitte des 16. Jahrhunderts bewohnt gewesen sein. Das könne er urkundlich belegen, schreibt der Heimatforscher Adolf Kaufmann in seinem 1962 erschienenen Buch „Geschichte von Stetten im Remstal“. Auch das digitale landeskundliches Lexikon Leo-BW verweist auf eine „Wüstung Waldbruderhaus“ bei Kernen, die Mitte des 16. Jahrhunderts noch bewohnt gewesen sei.
Wahrscheinlich war die Behausung noch deutlich älter, aber über ihre frühen Bewohner weiß man nichts. Namentlich bekannt ist dagegen einer, der sich zwischen 1530 und 1544 immer wieder hier aufgehalten haben soll: Es war Kaspar von Schwenckfeld, ein Reformator und Spiritualist, der eine eigene religiöse Strömung begründete. Sie gehörte zur Täuferbewegung, die sich von 1525 an in Europa ausbreitete. „Unter diesem Begriff wurden verschiedene Gruppen subsummiert“, sagt Joachim Halbekann, der Esslinger Stadtarchivar. Alle lehnten die Kindstaufe, da nicht in der Bibel verankert, ab. Die Taufe sollte die bewusste Entscheidung eines mündigen Menschen sein.
„Damit stellten sie sich außerhalb der göttlichen Ordnung und auch außerhalb der Gemeinschaft“, so Halbekann. Zumal die Täufer sozialen Bewegungen nahestanden und sich in verschiedenen Punkten auch der weltlichen Obrigkeit verweigerten: Sie leisteten zum Beispiel keine Eide und keinen Wehrdienst. Für die damalige Gesellschaft sei das eine große Bedrohung gewesen, erklärt Halbekann, deshalb seien die Täufer gnadenlos verfolgt worden: von der altgläubigen wie der lutherischen Kirche, von den Württembergern und Habsburgern wie in der freien Reichsstadt Esslingen. In letzterer vielleicht nicht ganz so vehement, hier bestand jedenfalls um 1527 eine der ersten „Wiedertäufer-Gemeinden“ mit bis zu 200 Mitgliedern. Aber sicher waren ihre Anhänger auch hier nicht, mehrere von ihnen wurden laut Veröffentlichungen der evangelischen Kirche in Esslingen 1529 und 1530 hingerichtet.
Ortsbezeichnungen erinnern am Lost Place an die früheren Nutzer
War es die Nähe zur Reichsstadt, die die Täufer in den Wald bei Stetten führte? Wahrscheinlich lag der Grund eher in Stetten. „Wir waren ein reichsritterschaftliches Dorf und über unsere Ortsherrschaft direkt dem Kaiser unterstellt“, sagt der Heimatforscher Ebbe Kögel aus Kernen-Stetten. Ortsherr von Stetten war ab 1525 Hans Konrad Thumb von Neuburg, ein Abkömmling der auch in Köngen ansässigen Familie dieses Namens. Er stand zunächst Herzog Ulrich nahe, distanzierte sich später und trat in österreichische Dienste über. Laut dem Aichwalder Heimatbuch hat Hans Konrad den Reformator Kaspar von Schwenckfeld, der sein Schwager gewesen sei, nach Stetten geholt. Dort hatte er großen Einfluss und konnte sogar den Ortsgeistlichen für seine Sache gewinnen. In Stetten und Umgebung ließen sich in der Folge viele „Schwenckfeldianer“ nieder. Ihr Anführer hat sich später an verschiedenen Orten aufgehalten, teils im Verborgenen. Er starb 1561 in Ulm.
Die Spur der Täufer findet man auch in den Flurnamen: Es gibt den Bruderhauswald, die Mönchberge sowie den Mönchwiesenbach, der direkt bei den Bruderhaus-Ruinen entspringt und gefasst wird. Das Wasser in der Sandsteinstube stammt wohl aus derselben Quelle; möglicherweise wurde sogar genau hier getauft. In der Wiedertäuferklinge, schon auf Esslinger Markung gelegen, soll sich die Gemeinschaft versammelt haben. Manfred Langhans schreibt in seinem Buch „Der Schurwald“, die „Schwarmgeister“ seien „angeblich mit 100 oder gar 150 Teilnehmern in den versteckten Klingen des Westschurwaldes zusammen“ gekommen. Heute kann man von einer Sitzbank, die natürlich jünger ist, aber auch schon ordentlich Patina angesetzt hat, auf den Ort blicken und die Fantasie blühen lassen. Den Gedenkstein hat der Stettener Walter Bäder angebracht, der die Ruinen und ihre Geschichte in den 80er-Jahren „wiederentdeckte“.
Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart verwahrt zahlreiche digitalisierte Dokumente, die auf den „Sektierer“ und seine Anhänger, die „Schwenckfeldianer“ hinweisen, darunter „Verordnungen und Bedenken“ gegen ihre Gemeinschaft, Verhörprotokolle und Akten. Der letzte Anhänger in Deutschland soll 1826 in Schlesien verstorben sein. In den USA, in Pennsylvania, gibt es dagegen heute noch eine „Schwenkfelder Church“.
Geheimnisvolle Orte in der Region
Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Places ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.
Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.