Der Wasserturm im Wäldle auf dem Schönbühl stammt aus dem Jahr 1916. Foto: Gottfried Stoppel

Oberhalb der Wiege Württembergs gibt es einiges zu entdecken. Nicht nur die Überreste des einstigen Jugendheims und ein Panoramawegle mit Remstalblick, sondern einen richtig romantischen alten Wasserturm mitten im Märchenwäldle – selbst per GPS schwer zu finden. Unsere Serie über Lost Places in der Region

Nein, er habe „keine Ahnung, wo das sein soll“ – es klingt tatsächlich wie ein verzweifelter Stoßseufzer, den da ein junger Mann in Tourenausrüstung am Eingangsbereich des Hochwasserbehälters oberhalb von Beutelsbach ausstößt. Der traumhafte Blick übers Remstal interessiert ihn und seine drei Begleiter offensichtlich überhaupt nicht. Die Blicke gehen in die entgegengesetzte Richtung: zum kleinen Wald oben auf dem Schönbühl, hinter der eher sachlichen Anlage der Landeswasserversorgung. Geocaching, die GPS-Schnitzeljagd, hat eigene, digital definierte Ziele. Und die Suche der vier verlangt nach einem Turm, der ihren GPS-Daten zufolge ziemlich genau hier stehen sollte. Dort, wo wir uns getroffen haben, neben improvisierter Feuerstelle, einladender Sitzbank und dem Zaun um die Landeswasserversorgung.

Beim Blick übers Remstal ist vom Turm auf dem Schönbühl nichts zu sehen. Foto: Gottfried Stoppel

Natürlich steht der alte Wasserturm der Wasserversorgung letztlich tatsächlich direkt ums Eck. Aber wer sich hier auf dem „Scheppes“ nicht auskennt, hat zumindest im Sommer, wenn die Bäume dicht begrünt sind, kaum eine Chance, ihn auf Anhieb zu finden. Wir geben den GPS-Schatzjägern einen kleinen Tipp: Direkt neben dem Zaum geht ein Feldweg in Richtung Wäldle, und nach knapp 50 Metern oder so zweigt nach rechts ein Pfad ab, der direkt zum Ziel führt. Dem alten Wasserturm der Anlage, die inzwischen längst aus einer geräumigen unterirdischen Wasserzisterne mit mächtigem Volumen besteht.

Diskreter Lost Place mitten im Wald

Versteckt zwischen den Bäumen entwickelt der gut 20 Meter hohe Turm trotz des wenig märchenhaften Baustoffs Beton einen gewissen verwunschenen Charakter. Da habe sich, so heißt es in den traditionell verfeindeten Ortschaften Beutelsbach und Schnait, in vergangenen Jahrzehnten schon so manches gemischte Pärchen heimlich in geschützter Umgebung getroffen – Schnaiter Katz und Hommelhenker oder auch andersrum, ganz ohne Ärger mit Verwandtschaft oder Nachbarn.

Industriebauwerk mit märchenhaftem Flair Foto: Gottfried Stoppel

Beim Blick am alten Turm hoch könnte man sich bei bestimmten Lichtbedingungen durchaus auch vorstellen, dass sich oben das Fensterle öffnet und irgendeine Schönbühlrapunzel ihren Zopf herabschweben lässt. Wasser jedenfalls steht im alten, im Jahr 1916 gebauten Wasserturm längst nicht mehr. Sein Volumen von 20 Kubikmetern spielt bei den heutigen Dimensionen der Landeswasserversorgung keine ernsthafte Rolle mehr.

Immerhin ist er einer der ältesten Wassertürme der Landeswasserversorgung (LW). Diese wurde 1912 gegründet. Heute versorgt sie rund drei Millionen Menschen in 250 Städten und Gemeinden mit Trinkwasser. Die jährliche Wasserabgabe beträgt 90 Millionen Kubikmeter. Direkt neben dem Schönbühl liegt übrigens eine der wenigen Übergabestelle zwischen jenem Wasser, das aus dem Donau-Ries und dem Grundwasser der Schwäbischen Alb stammt, und jenem, das bei Sipplingen seit Mitte der 1950er Jahre im Bodensee entnommen wird.

Mit einem Volumen von 88 000 Kubikmetern ist der Schönbühl der zweitgrößte Wasserspeicher für viele Städte und Gemeinden im mittleren Neckarraum. Die Anlage wurde 1982 in Betrieb genommen. Die Raumtiefe beträgt 90, die Breite 160 und die Höhe sieben Meter. Das gespeicherte Wasser hat eine Temperatur von zwölf Grad. 300 Säulen tragen in dem unterirdischen Wasserreservoir – von dem oben natürlich nichts zu sehen ist – die Deckenlast ab. Beim Speicher oberhalb, so hieß es einst bei einer Führung dort in den heiligen Wasserhallen oberhalb von Weinstadt, fließen durchschnittlich 3000 Liter Wasser pro Sekunde durch die Rohre.

Vom Jugendheim Schönbühl wird nur eine alte Scheune übrig bleiben. Foto: Gottfried Stoppel

Jenseits des Wäldles auf dem Schönbühl findet sich der geneigte Besucher an einem ganz anderen verlorenen Platz wieder. Die inzwischen nur noch von weitem zu bewundernden Reste des einstigen Jugendheimes Schönbühl. Im Jahr 1856 hatte Pfarrer Lämmert auf dem Gut Thalwiese bei Bad Herrenalb die „Rettungsanstalt für besonders entartete und verbrecherische Knaben evangelischer Confession“ gegründet. 1866 zog die Einrichtung auf die in Richtung Schnait ausgerichteten Hängen des Schönbühls um, wo sie unter unterschiedlicher Trägerschaft und Leitung bis zu ihrer Schließung 2012 gut 150 Jahre lang bestand – inklusive Landwirtschaftsgebäuden, Turnhalle, Werkstätten und der Mitarbeitersiedlung Saffrichhof.

Einst gehörte das Jugendheim samt Areal dem Landeswohlfahrtsverband, der im Zuge der Verwaltungsreform des Landes 2005 im Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) aufging. Nach mehrfachem Verkauf samt Aufteilung des ursprünglich gut 36 Hektar großen Geländes hat sich die Stadt Weinstadt die verbleibenden 15 Hektar des alten Gebäudeareals samt Hauptgebäude gesichert und will dort einen großen Solarpark errichten. Von den Gebäuden soll nur eine alte Scheune stehenbleiben.

Lost Places in der Region

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Place ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Geheimnisvolles Stuttgart
Auch direkt in der Landeshauptstadt finden sich viele Überraschungen. Von Tipps und Ausflugszielen bis hin zum Lost Place sammeln wir sie online unter dem Titel „Geheimnisvolles Stuttgart“.