Von Melanie Braun
Seine Frau dachte zuerst, er sei paranoid. Tatsächlich klingt vieles von dem, was Özkan Erdem erzählt, schier unglaublich. Der 47-Jährige betreibt einen Schlüsselnotdienst in Esslingen und weiß Haarsträubendes über Erfahrungen mit Leuten zu berichten, die er als Schlüsseldienstmafia bezeichnet. Doch er ist längst nicht der Einzige, der dubiose Machenschaften in der Branche anprangert.
So richtig Verdacht geschöpft hat Özkan Erdem, als er auf einmal kaum noch Anrufe bekam. „Bei mir vergeht eigentlich kein Tag, an dem keiner anruft“, sagt er – allein schon, weil ihn als mobiler Schlüsseldienst und Anbieter von Sicherheitstechnik ständig telefonische Anfragen erreichten. Also machte er sich auf die Suche und entdeckte, dass die Telefonnummer auf seiner Internetseite mit einem neuen Quellcode unterlegt war. Damit landeten die Anrufer, die auf dem Smartphone seine Nummer anklickten, nicht bei ihm, sondern wurden zu einer anderen Nummer weitergeleitet – zu der eines Callcenters eines anderen Schlüsseldienstes, wie der Esslinger mit einem Anruf herausfand.
Erdem korrigierte die Einstellung auf seiner Internetseite wieder – doch es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass seine Nummer unterwandert wurde. Immer wieder bekam der Selbstständige die Nachricht von seinem Telefonanbieter, dass seine Seite gehackt worden sei. Und immer wieder merkte er, dass es Lücken in seiner Telefonkorrespondenz gab: Manchmal sei sein Telefon an mehreren aufeinander folgenden Tagen immer zu den gleichen Zeiten stumm geblieben, etwa von 15 bis 21 Uhr. Ein Blick auf die Einstellungen seiner Homepage habe dann die Erklärung gebracht.
Und das war noch nicht alles. Der Esslinger Schlüsseldienstanbieter berichtet, auch selbst angegangen worden zu sein. Er sei mehrfach angerufen und von einschlägigen Gesprächspartnern bedrängt worden. Sie hätten wissen wollen, warum er seine Dienste so günstig anbiete und ihn nötigen wollen, mit ihnen zusammen zu arbeiten. „Aber ich will nicht so sein wie die. Ich will auch Geld verdienen, aber ich will die Leute nicht abzocken“, sagt Özkan Erdem.
Genau das sei aber das Geschäftsmodell einiger dubioser Firmen. Das Problem sei nur, dass viele Leute gar nicht wüssten, mit welchen Tricks diese arbeiteten. Es gebe einige bundesweit agierende Firmen, die sich als lokal ausgäben – etwa durch eine Telefonnummer mit Esslinger Vorwahl. Doch wer dort anrufe, lande nicht hier vor Ort, sondern in einem Callcenter irgendwo in Deutschland, sagt Erdem. Von dort aus würden dann Leute im näheren Umkreis angefordert, die dazu angehalten würden, die Kunden abzuzocken. So würden zwar auf den Internetseiten solcher Dienste Tiefstpreise angeboten, etwa eine Türöffnung ab zwölf Euro. Doch das seien nur Lockpreise. Tatsächlich wisse er von vielen Kunden, dass sie letztendlich mehr als 400 Euro, teilweise über 800 Euro für eine einfache Türöffnung zahlten.
Andere lokale Anbieter haben ähnliche Erfahrungen gemacht: „Meine Internetseite ist schon zwei Mal gehackt worden“, erzählt auch Mehmet Sancak, Geschäftsführer des gleichnamigen Geschäfts für Schlüsseldienst und Sicherheitstechnik in Esslingen. Die virtuellen Eindringlinge hätten stets die letzte Ziffer seiner Telefonnummer auf der Seite verändert. „Wir haben das gar nicht sofort bemerkt“, schließlich kontrolliere man ja nicht ständig seine Homepage. Inzwischen habe er aber eine neue Internetseite erstellen lassen, die angeblich nicht gehackt werden könne. „Ich bin mal gespannt“, sagt er.
Auch Sancak berichtet von Kunden, die bis zu 700 Euro für den Einsatz eines Schlüsseldienstes bezahlt hätten: „Dafür müsste ich sechs oder sieben Mal eine Tür öffnen.“ Allerdings mache der Schlüsselnotdienst nur einen kleinen Teil seines Geschäfts aus, deshalb konzentriere er sich gar nicht so sehr auf diesen Bereich. „Aber es tut uns natürlich leid, wenn die Kunden so viel bezahlen müssen.“
Jörg Eberlein, Inhaber des Schlüsseldienstes S. u. St. in Ostfildern, sollte vor Jahren schon einmal von einem derartigen Unternehmen angeworben werden: „Aber ich will nichts mit denen zu tun haben“, betont er. „Das ist die Mafia, das hat mit uns Fachhändlern nichts zu tun.“ Deren Mitarbeiter würden von einer Hauptfirma „mit Sitz sonstwo“ losgeschickt, hätten oft sehr lange Anfahrten und würden angehalten, auch intakte Türschlösser zu zerstören, um dort für viel Geld eigentlich billige neue Zylinder einzusetzen. Am Ende stünden dann oft horrende Summen von mehreren hundert Euro, die die Kunden zahlen sollten.
Bei der Verbraucherzentrale Stuttgart spricht man im Hinblick auf derart unseriöse Schlüsseldienste von einem Dauerbrenner. Allein im vergangenen Jahr habe man 463 Anfragen zu diesem Thema gehabt, berichtet Günter Schwinn, Abteilungsleiter Bauen, Wohnen, Energie. In den meisten Fällen kämen allerdings Verbraucher, die bereits völlig überhöhte Preise gezahlt, aber keinen richtigen Rechnungsbeleg hätten. Dann sei oft unklar, welche Firma die Leistung überhaupt erbracht habe. Gebe es doch einen Anhaltspunkt dafür, rate die Verbraucherzentrale meist dazu, Geld zurückzufordern – oder am besten natürlich gar nicht erst zu bezahlen.
Manchmal empfehle man auch eine Anzeige bei der Polizei, schließlich könne es sich in manchen Fällen um Wucher, Betrug, Nötigung oder sittenwidrige Verträge handeln. Neulich habe er von einer Frau erfahren, dass sie mehr als 1000 Euro bezahlen musste, weil sogar ihre Tür demoliert worden war – die Kosten für eine neue Schließanlage in dem Haus seien noch gar nicht dabei gewesen, erzählt Schwinn. Bei der Verbraucherzentrale gehe man davon aus, dass eine einfache Türöffnung tagsüber nicht viel mehr als 100 Euro kosten dürfte, schließlich dauere so etwas in der Regel nur wenige Minuten. Ähnliche Preise nennen auch die lokalen Schlüsseldienste Erdem, Sancak und S. u. St.
Das Problem sei, dass die Leute in ihrer Not oft nicht genau hinschauten, wen sie alarmierten und im Vorfeld die Konditionen und Kosten nicht abklärten, sagt Schwinn. Das nutzten manche Firmen aus. In einigen Fällen habe man bereits versucht, ihnen in die Quere zu kommen. So seien etwa schon in groß angelegten Aktionen Telefonanschlüsse gekappt worden, die als lokale Nummern angegeben, aber in Wahrheit an weit entfernte Callcenter weitergeleitet wurden.
Das bestätigt Michael Reifenberg, Pressesprecher der Bundesnetzagentur.
„Wir haben im vergangenen Jahr 300 Rufnummern abgeschaltet, die Ortsnähe vorgetäuscht haben, bei denen der Anrufer tatsächlich aber weitergeleitet wurde“, sagt er. Denn das sei nicht erlaubt. Man dürfe zwar Telefonate weiterleiten, müsse dies aber kenntlich machen. Das passiere oft aber nicht: „Der Rufnummern-Missbrauch ist ein beständig bestehendes Problem.“ Betroffen seien vor allem Branchen, in denen die Betroffenen schnell Hilfe bräuchten und keine Zeit für einen langen Auswahlprozess hätten. Bei der Abschaltungsaktion 2016 habe es sich vor allem um Nummern von Rohrreinigungs- und Kanalreiniger-Firmen gehandelt, aber Schlüsseldienste seien auch schon betroffen gewesen.
Auch an anderen Stellen ist das Problem bekannt. Beim Polizeipräsidium Reutlingen taucht das Thema laut dem Sprecher Christian Wörner immer wieder mal auf. Allerdings handele es sich in den meisten Fällen nicht um Strafsachen, sondern um zivilrechtliche Angelegenheiten. Karlheinz Efkemann, Sprecher des Bundesverbands Metall (BVM), bei dem auch Schließ- und Sicherheitstechniker organisiert sind, berichtet von wöchentlich mehreren Anfragen zu dem Thema. Er spricht von „mafiaähnlichen Strukturen“. Solche will man beim Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart allerdings nicht erkennen: „Nicht jede Bauernfängerei gehört zur organisierten Kriminalität“, sagt der Sprecher Horst Haug. Das Problem sei zwar auch beim LKA bekannt, sei aber doch eher Sache der örtlichen Polizeistationen.
Das würde Gunda Lauckenmann nicht so sehen. Sie ist die Pressesprecherin des Vereins Verbraucherschutz, der das Online-Portal verbraucherschutz.de betreibt. Angesichts der mehreren hundert Anfragen dazu im Jahr seien Schlüsseldienste inzwischen ihr Spezialthema, sagt Lauckenmann. Und sie spricht sehr wohl von höchst kriminellen Strukturen. So stelle sie immer wieder fest, dass es letztlich nur sechs oder sieben Leute in Deutschland gebe, auf die rund 400 000 Telefonnummern zurückzuführen seien. Laut Lauckenmann führen die Fäden alle in einer Zentrale zusammen, die von einer Dachorganisation in England gesteuert würden. Sie wisse auch von einigen Beteiligten, die bereits im Gefängnis saßen, zwei seien auch derzeit hinter Gittern. Manch ein lokaler Schlüsseldienst habe ihr auch von massiven Bedrohungen berichtet, wenn er sich nicht an der Abzocke beteiligen wollte: „Da werden gerne auch mal Reifen zerstochen oder die Fenster von Ladengeschäften eingeschlagen.“
Tipps für verbraucher
Absprachen: Die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg rät bei Schlüsseldiensten zur Vorsicht. Kunden sollten ortsansässige Firmen bevorzugen, um lange Anfahrtswege zu vermeiden – und möglichst schon beim ersten Anruf nach der Adresse des Dienstleisters fragen. Wer seinen Notdienst unter der örtlichen Vorwahl erreicht habe, müsse auch nur die Kosten für An- und Abfahrt innerhalb der Ortsgrenzen zahlen. Zudem reiche in den meisten Fällen ein Handwerker aus – kommen zwei, müsse eventuell auch für beide gezahlt werden. Um das zu verhindern, solle man im Zweifelsfall die Arbeitsaufnahme durch weitere Mitarbeiter vor Zeugen zurückweisen. Zudem solle man vor Beginn der Arbeiten genau festlegen, was zu welchem Preis gemacht werden soll. So sei in der Regel das einfache Öffnen der Tür ausreichend, eine Auswechslung des gesamten Schlosses sei in den meisten Fällen nicht notwendig.
Zahlung: Bevor es ans Zahlen geht, solle man auf einer detaillierten Rechnung bestehen, auf der alle Einzelposten aufgelistet sind und die der Vereinbarung entspricht. Bearbeitungs- oder Buchungsgebühren, wie sie manche Notdienste verlangten, wenn man nicht in bar zahlen wolle, seien unzulässig. Zuschläge dürften nur für Leistungen außerhalb der Arbeitszeiten erhoben werden, anderweitige Gebühren wie etwa „Sofortzuschläge“ oder „Spezialwerkzeugkosten“ seien ebenfalls nicht erlaubt. Zudem dürfe der Handwerker den Kunden nicht unter Druck setzen: Nötigung sei strafbar. Auch zur Zahlung solle man sich nicht nötigen lassen und keinesfalls etwa zusammen mit dem Monteur zum nächsten Geldautomaten fahren. Es sei zudem das gute Recht jedes Bewohners, jemanden aus der eigenen Wohnung oder vom Grundstück zu verweisen – im Zweifelsfall solle man die Polizei rufen.
Verein: Nach eigenen Angaben hilft der Verein Verbraucherschutz Menschen, die Probleme mit Unternehmen haben und veröffentlicht Betrugsfälle im Internet. Der Verein finanziert sich unter anderem über Verwaltungsgebühren von Firmen, die ein Serviceversprechen an diesen abgeben und im Gegenzug auf der Internetseite als seriös gelistet werden. Dieses Modell wird von Kritikern mit Skepsis gesehen, weil der Verein damit nicht unabhängig urteilen könne. Gunda Lauckenmann, Pressesprecherin des Vereins, betont hingegen, dass man die als seriös angegebenen Firmen regelmäßig überprüfe und Beschwerden über diese ebenfalls im Internet veröffentliche.