Paul-Stefan Roß Quelle: Unbekannt

Von Elisabeth Maier

Mit einer Nachbarin hat Jutta Wolfram Streit. „Es wäre gut, wenn wir wieder reden könnten“, findet die Rentnerin, die behindert ist. Mit ihrem Betreuer Reiner Fritz nimmt sie an der inklusiven Fachtagung „Gemeinsam statt einsam“ teil. Im Tagungszentrum Bernhäuser Forst in Stetten tauschen sich derzeit Menschen mit Behinderung und Fachkräfte über ein besseres Miteinander aus.

„Es ist gut, dass Betreuer mit ihren Klienten an der Tagung teilnehmen“, sagte Fritz nach der Einführungsrunde. Er ist Bereichsleiter für Offene Hilfen bei der Bruderhausdiakonie in Reutlingen, ist selbst mit etlichen Fällen vertraut. „Beim Essen oder in den Seminarpausen findet man eine bessere Ebene, als das im Alltag oft möglich ist.“ Auch die stark sehbehinderte Stefanie Stein ist mit ihrer Betreuerin gekommen. Sie hat sich für den Workshop „Unterwegs in meinem Quartier“ entschieden, um besser mit ihrem Umfeld in Kontakt zu kommen.

Das freut Mitveranstalterin Nora Burchartz, die beim Landesverband der Lebenshilfe für Offene Hilfen zuständig ist. Denn die ehemalige Koordinatorin der Behindertenhilfen im Landratsamt Esslingen beobachtet an ihrer neuen Stelle, „dass viele Betreuungsfälle in Baden-Württemberg zu sehr nebenher laufen“. Dabei stehe es Menschen mit Behinderung nach dem Bundesteilhabegesetz zu, „dass sie integriert werden und diese Hilfen bekommen“. Burchartz kämpft dafür, dass Inklusion gelebt wird. „Wir bei der Lebenhilfe sind die Lobby für Menschen mit Behinderung.“

Zwischenrufe erwünscht

Eine Fachtagung für und mit dieser Zielgruppe sei „etwas Einmaliges“, findet die Fachfrau und lacht. „Normalerweise wäre es bei Tagungen unvorstellbar, dass jemand dazwischen ruft.“ Beim Vortrag von Professor Paul-Stefan Roß, der den Studiengang Soziale Dienste an der Dualen Hochschule in Stuttgart leitet, waren Zwischenrufe sogar sehr erwünscht. Gemeinsam mit den geistig und körperlich behinderten Menschen entwickelte der Wissenschaftler Strategien, wie ein gutes Miteinander gelingen kann. Um griffig darzustellen, was eine Beziehung bedeutet, hatte er das gelbe Springseil seines Sohnes mitgebracht und zog mit Burchartz daran. „Eine Beziehung hat mit ziehen zu tun.“

Die Teilnehmer erfuhren in dem lebendigen Vortrag, dass eine Beziehung Arbeit bedeutet. In einer kurzen Fragerunde kam heraus, dass die Betreuer für viele Menschen mit Behinderung die wichtigsten Ansprechpartner sind. „Das freut mich sehr, aber wir begegnen unseren Klienten ja beruflich“, sagte eine Sozialpädagogin. Da sei es schwierig, den richtigen Weg zu finden. „Es geht um ein professionelles, freundliches Miteinander“, gab Roß beiden Seiten mit auf den Weg. Begegnungen auf Augenhöhe seien sehr wichtig, wenn es um Betreuungsverhältnisse geht. „Aber die Betreuer müssen auch mal abschalten, wenn sie abends heim gehen oder Urlaub machen.“ Da geht es nach seinen Worten auch um Professionalität. „Gemeinsam lachen finde ich aber auch wichtig.“

Auch Liebesbeziehungen waren ein wichtiges Thema, wenn auch nur eines unter vielen. Verliebte Paare mit Behinderung, die in den Reihen saßen, lebten aufs Schönste vor, wie das Miteinander gelingen kann. Eine Frau mit geistiger Behinderung berichtete ganz offen von gescheiterten Beziehungen. Ihr Kind lebe bei einer Pflegemutter. „Das tut manchmal schon weh.“ In den Workshops ging es auch um „begleitete Elternschaft“.

Die Arbeit der Lebenshilfe

Die Arbeit der Lebenshilfe in Baden-Württemberg: Der Landesverband Baden-Württemberg der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung ist ein Zusammenschluss von 65 Orts-, Kreis- und Regionalvereinigungen. Auch in Esslingen ist der Verein aktiv. Er hat 22 000 Mitglieder sowie 39 außerordentliche Mitgliedsorganisationen.

Hilfe zur Selbsthilfe: Der Verband spricht mit einer Stimme - zum Beispiel gegenüber der Politik - um Veränderungen anzustoßen, mitzugestalten und um Begriffe wie „Teilhabe“ und „Inklusion“ mit Leben zu füllen. Als Selbsthilfeorganisation steht dabei für die Lebenshilfe seit über 50 Jahren die Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen - als Experten in eigener Sache - an erster Stelle.

Angebote für Menschen mit Behinderung: Mit einem umfassenden Fortbildungsprogramm für Menschen mit und ohne Behinderung will die Lebenshilfe einen Zugang zur Bildung ermöglichen. Ein Kurs für Frauen und Männer mit Behinderung heißt „Der Liebe auf der Spur“. Außerdem gibt es immer wieder Seminare für Paare, die Menschen mit Behinderung fit machen sollen für das Zusammenleben. Gefragt sind auch Kurse zum Berufsleben. Auch die Bundestagswahl 2017 ist Thema eines Seminars. „Wir machen die Erfahrung, dass Menschen mit und ohne Behinderungen durch Fortbildungen neue Chancen bekommen“, ist Stephan Zilker, der Vorsitzende des Landesverbands Baden-Württemberg, überzeugt.

www.lebenshilfe-bw.de