Palästinensische Frauen fliehen mit ihren Kindern nach Luftangriffen der israelischen Armee aus Rafah im Süden des Gazastreifens. Foto: AFP/SAID KHATIB

Israels Armee ruft die Palästinenser auf, den Norden des Gebiets zu verlassen. Die Uno warnt vor einer humanitären Katastrophe.

Sechs Tage nach dem Großangriff der Hamas auf Israel hat die israelische Armee die Palästinenser zu einer Massenevakuierung im Norden des Gazastreifens aufgefordert. Am Freitag rief sie rund 1,1 Millionen Zivilisten in dem Palästinensergebiet auf, sich in ein Gebiet südlich des Flusslaufs Wadi Gaza zu begeben. Die UNO kritisierte die Aufforderung und warnte vor einer humanitären Katastrophe.

Welche Ziele verfolgt Israel mit der bevorstehenden Bodenoffensive?

In seiner ersten Reaktion auf den Terrorangriff gab Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Ziel aus, die „militärischen Kapazitäten“ der Hamas zu zerstören. Darunter versteht Israel nicht nur eindeutig militärische Ziele wie Waffenlager und -produktionsstätten, Kommando- und Kontrollzentren und Raketenabschussrampen, sondern auch Einrichtungen wie Banken, die zur Terrorfinanzierung genutzt werden.

In den ersten Tagen stand allerdings nicht fest, welches längerfristige Ziel Israel in Gaza verfolgt: Würde eine entmilitarisierte Hamas weiter regieren dürfen? Seit Kurzem legt sich die Armee etwas näher fest: „Wir können nicht weiter leben mit der Führung der Hamas“ in Gaza, sagte der Sprecher der israelischen Armee, der IDF, am Freitag. Wer Gaza stattdessen kontrollieren soll, ist unklar. Infrage käme theoretisch die Palästinensische Autonomiebehörde, die im Westjordanland regiert.

Wie will Israel militärisch vorgehen?

Nach Ansicht von Yaakov Amidror, pensionierter Generalmajor und früherer Berater der Regierung für nationale Sicherheit, muss Israel zunächst sämtliche Terroristen töten oder festnehmen, die sich noch auf seinem Territorium bewegen. Das ist Israel inzwischen weitgehend gelungen. Die zweite Phase besteht Amidror zufolge aus Luftschlägen im Gazastreifen, wie die IDF sie seit einer Woche ausführt. In der dritten Phase sollte Israel sämtliche militärische Infrastruktur zerstören. „Dafür müssen Truppen in Gaza eindringen, das geht nicht allein mit Luftwaffe oder Artillerie“, so Amidror.

Am Freitagnachmittag schien es, dass diese Phase kurz bevorsteht. Zu erwarten ist ein schwieriger Einsatz, der sich über Monate hinziehen kann. Denn die Hamas hat viele ihrer Einrichtungen inmitten ziviler Infrastruktur in den Städten sowie in ihren Tunneln verborgen. Die Soldaten werden sich Straßenzug um Straßenzug vorarbeiten und auf einen verlustreichen Häuserkampf einlassen müssen.

Was bedeutet das für die Geiseln?

Ein Hamas-Vertreter hat gedroht, für jeden unangekündigten Luftangriff eine Geisel zu töten. Die Glaubwürdigkeit dieser Drohung scheint zweifelhaft, denn so lange die Hamas die Hoffnung hat, mittels der Geiseln womöglich eigene Gefangene aus israelischen Gefängnissen freizupressen, sind sie für die Terroristen lebendig wertvoller als tot. Sollte die Organisation in Gaza jedoch stark in Bedrängnis kommen, könnte ihr Kalkül sich ändern: Womöglich könnte sie in der gefilmten Exekution von Geiseln ein probates Mittel der psychologischen Kriegsführung sehen. Unabhängig davon sind die Geiseln, sofern die Armee ihren Aufenthaltsort nicht kennt, auch von den israelischen Luftangriffen gefährdet.

Was droht den palästinensischen Zivilisten in Gaza?

Schon jetzt ist die humanitäre Lage im Gazastreifen prekär, verschärft durch die komplette Blockade, die Israel vor einigen Tagen verhängt hat. Auch Ägypten hat seinen Grenzübergang mit Verweis auf Gefahr durch israelische Luftschläge geschlossen. Trotz gegenteiliger Appelle unter anderem aus Washington blieb es zunächst dabei. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte, das Gesundheitssystem im Gazastreifen stehe bereits „kurz vor dem Zusammenbruch“. Die Zahl der Zivilisten, die bei israelischen Luftschlägen sterben, steigt stetig. Eine monatelange Bodenoffensive, begleitet von weiteren Schlägen aus der Luft, triebe die Opferzahl zweifellos weiter in die Höhe – auch weil die Hamas viele ihrer Einrichtungen in ziviler Umgebung versteckt. Die IDF betont zwar immer wieder, Zivilisten in Gaza vor Angriffen zu warnen. Doch viele Menschen haben keinen Ort, an den sie fliehen könnten.