Elsa vermisst ihre Lea. Seit Oktober hat sie sie nicht mehr gesehen. Foto: Priva/t

Elsas Tochter wurde von deren Vater in sein Heimatland entführt. Dabei hat die Mutter das alleinige Sorgerecht. Vor Gerichten hat sie recht bekommen, aber ihr Kind ist immer noch in Slowenien – und ihr ist wegen der Anwaltskosten das Geld ausgegangen.

Auf dem Boden liegt kein Spielzeug. Das Notenheft auf dem E-Piano ist zugeklappt, die Schreibtischplatte leer. Leas Zimmer ist schon lange im Wartezustand. Ihre Mutter Elsa blickt auf das Hochbett, in dem sich ihr Mädchen so gerne eine Höhle gemacht hat. Geschlafen habe sie immer oben. Eine Zeitschrift steckt noch an der Seite zwischen Matratze und Rahmen. Wahrscheinlich hat Lea darin gelesen an ihrem letzten Abend zu Hause.

Elsa hat ihre Emotionen eigentlich im Griff. Aber jetzt überkommen sie sie. Sie wischt sich die Tränen aus den Augen. Mehr als ein halbes Jahr hat sie ihre Tochter schon nicht mehr gesehen. Das letzte Mal am Morgen des 7. Oktober des vergangenen Jahres, einem Samstag. „Da hat er sie mitgenommen“, sagt die 35-Jährige. Er ist David K., der slowenische Vater der damals Zehnjährigen.

Elsa hat lange gezögert, ob sie mit der Presse über die Entführung sprechen soll. Ihre Anwälte haben ihr davon abgeraten. Sie hielt sich daran, weil sie ihre Chancen vor Gericht nicht schmälern wollte. Inzwischen sind jedoch mehrere Urteile in der Sache ergangen – in Ludwigsburg und in Slowenien. Sie fielen alle zu ihren Gunsten aus. Doch Lea ist immer noch in Maribor. Der Streit vor Gericht geht weiter, wird immer teurer, und sie selbst versinkt in Schulden.

„Je länger es dauert, desto schlimmer wird es“

Was ist am 7. Oktober passiert? Die Kindesentführung lief unspektakulär ab. Komplett anders als im Fall der zwei beim Vater lebenden Kinder der Unternehmenserbin Christina Block, die in der Silvesternacht aus Dänemark nach Deutschland verschleppt wurden. In Leas Fall stand an dem besagten Oktoberwochenende der reguläre Umgang an. Vereinbart war, dass David K. seine Tochter am Samstagmorgen abholt und am Sonntag bis 18 Uhr zurückbringt. „Das hat er unterschrieben“, sagt Elsa, die das alleinige Sorgerecht und damit auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter hat. Ohne ihre Einwilligung durfte David K. mit Lea nicht das Land verlassen.

Doch er hielt sich nicht dran. Am Samstagnachmittag rief er Elsa an: „Er sagte, dass er in Slowenien ist, und dass er sie nicht zurückbringt“, berichtet sie. Trotz des Schocks blieb sie zunächst ruhig. Sie habe gedacht, dass sie nur zur Polizei gehen müsse und Lea schnell wieder zu Hause im Landkreis Ludwigsburg sein würde. „Ich hätte mir nie ausmalen können, dass es länger als ein paar Wochen dauert.“ Doch aus Wochen wurden Monate und sie spürt, wie sie beginnt, innerlich zu resignieren. Die Tage, die sie von morgens bis abends mit Weinen verbracht hat, liegen hinter ihr. Nicht, dass der Schmerz geringer geworden wäre: „Je länger es dauert, desto schlimmer wird es.“

Sie war hochschwanger mit dem zweiten Kind

Inzwischen weiß Elsa, dass ihr Ex-Partner lange geplant hat, Lea zu sich zu holen. Im März 2023 wandte er sich ans Jugendamt in seiner Heimat, weil er selbst das Sorgerecht erlangen wollte. In dem Monat habe er auch erfahren, dass Elsa ein zweites Kind erwartet – von ihrem neuen Partner. Elsa glaubt nicht, dass das ein Zufall ist.

„Es geht ihm nicht um die Lea“, ist sie sich sicher. Vor der Trennung im Oktober 2015 habe er sich für seine Tochter nicht interessiert, das gemeinsame Sorgerecht auch nicht angestrebt. Allerdings war David K. offenbar unzufrieden mit der Umgangsregelung, die zuletzt galt. Seit Lea nach den Sommerferien von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt ist, konnte er sie außerhalb der Ferien nicht mehr so lang wie zuvor sehen.

Elsa nimmt an, der Zeitpunkt der Entführung sei bewusst gewählt worden. Denn Anfang Oktober war sie bereits hochschwanger und entsprechend schwächer als sonst. Es sei klar gewesen, sie würde sich nicht so gut wehren können.

Die Anwältin hat die Entscheidungen angefochten

Die erste Gerichtsentscheidung erging am 8. November in Ludwigsburg. David K. habe das Kind an seine Mutter herauszugeben, steht in dem Beschluss eines Ludwigsburger Familienrichters, der unserer Zeitung vorliegt und der – wie das Familiengericht im Dezember schriftlich festgehalten hat – in EU-Mitgliedsstaaten vollstreckbar sei.

Auch in Slowenien bekam Elsa recht. Sie hatte dort auf Vollstreckung des Ludwigsburger Beschlusses geklagt und darüber hinaus ein Verfahren nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) angestrengt. Slowenien hat dieses Übereinkommen unterzeichnet. Bei der Anhörung konnte Elsa selbst gar nicht dabei sein. Der Termin war kurz vor Weihnachten, rund um den errechneten Geburtstermin ihres zweiten Kindes. Sie musste sich von ihrer Anwältin vertreten lassen.

Die Erfolge vor Gericht haben ihr bisher nichts gebracht. David K.’s Anwältin ist jeweils in die nächste Instanz gegangen. Und das Jugendamt in Maribor stehe auf der Seite des Vaters. Es empfehle, ihm das Sorgerecht zu übertragen, berichtet sie – „ohne mit mir gesprochen zu haben“. Sie hat in Deutschland inzwischen auf eigenen Antrag auch familiengerichtlich das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekommen, das sie vorher als Mutter automatisch hatte.

Was der Vater seiner Tochter wohl über sie erzählt?

Elsa hat ihren Sohn auf dem Schoß. Sie ist erleichtert, dass er gesund auf die Welt kam. In den Wochen vor der Geburt Ende Dezember habe sie in ihrer Verzweiflung nicht gut auf sich achten können. Sie habe bis zur Entbindung jede Minute genutzt, um so viel wie möglich in die Wege zu leiten und Material für die Verfahren zusammenzustellen.

„Lea hat sich so auf das Geschwisterchen gefreut“, sagt sie. Was David K. ihr wohl erzählt hat? Dass ihre Mama nun eine neue Familie habe und kein Interesse mehr an ihr? Dass der neue Partner Lea nicht bei sich haben wolle? Elsa traut ihm das alles zu. In ihrer damaligen Beziehung habe er es schließlich geschafft, sie zu manipulieren.

David K. war Elsas erster Freund. Kennengelernt hatten sich die beiden in Österreich. Sie war 20, studierte Psychologie in Innsbruck und arbeitete nebenher als Reiseleiterin. David K. jobbte als Skilehrer. Nach ein paar „sehr schönen Monaten“ veränderte sich jedoch die Beziehung. Er habe ihr nicht gut getan, sie mehr und mehr kontrolliert. Sie waren eigentlich schon getrennt, als bei einem Wiedersehen Lea entstand. Elsa gab der Beziehung eine weitere Chance. Aber ihr sei klar gewesen: Für ihre Tochter würde sie alleine sorgen müssen. Sein Lebenswandel sei zu unstet gewesen. Und wie eine richtige Familie hätten sie tatsächlich nie gelebt. Im Oktober 2015 zog sie schließlich den Schlussstrich.

Der Rechtsweg ist lang und teuer – darauf verweist auch das Auswärtige Amt

Sie vermisst ihre Tochter so. Aber sie versucht, sich zusammenzureißen. Ihr Sohn soll nicht immer eine weinende Mutter sehen. Die Nächte sind am schwersten. Seit Wochen rauben ihr die Geldsorgen den Schlaf. Es stehen noch Anwaltsrechnungen aus, die sie bezahlen muss, damit es überhaupt weitergehen kann vor Gericht. Bisher summierten sich die Anwaltskosten in beiden Ländern auf rund 50 000 Euro.

Eben weil der Rechtsweg so langwierig und teuer ist, rät das Auswärtige Amt betroffenen Eltern „nach Möglichkeit“, außergerichtlich eine „einvernehmliche Lösung“ anzustreben. „Entscheidungen deutscher Gerichte nützen nichts, wenn sie im Ausland nicht durchgesetzt werden können“, heißt es auf einer Seite des Ministeriums zum Thema grenzüberschreitende Kindesentziehungen. Das Amt habe „keine rechtlichen und nur sehr begrenzte tatsächliche Möglichkeiten“, um bei der Rückführung entzogener Kinder nach Deutschland zu helfen.

Die Elfjährige will inzwischen in Slowenien bleiben

Elsa macht es verzweifelt: Dass es am Geld hänge, ob man das eigene Kind zurück bekommt oder nicht. Ihre Schwester hat im  Oktober aus Schutzgründen mit geänderten Namen eine Kampagne auf der Plattform Go-Fund-Me gestartet. Aber es gab kaum Resonanz – nicht mal 300 Euro kamen bisher zusammen. Elsa hofft, dass sich das ändert. Ihre Geldsorgen sind so drückend, dass sie ihre Elternzeit vorzeitig beenden musste. Seit April arbeitet sie im Homeoffice und beantwortet Kundenanfragen für ein Unternehmen. Eine andere Lösung gibt es nicht. Aufgeben ist keine Option.

Aber vielleicht kommt nun endlich Bewegung in die Sache. Kurz vor Veröffentlichung dieses Artikels hat Elsa erfahren, dass auch ein höheres Gericht in Slowenien in ihrem Sinne geurteilt hat: David K. habe Lea „unverzüglich zurückzugeben“. Sie bleibt dennoch vorsichtig, verbietet sich jegliche Euphorie. Es sei nicht die erste „tolle Nachricht“, die sie erreichte, aus der nichts wurde.

Und sie weiß natürlich, dass es auch dann nicht einfach werden wird, wenn doch noch alles gut geht und Lea wieder bei ihr ist. Die Elfjährige wolle inzwischen in Slowenien bleiben. Ihr Vater habe erfolgreich auf sie eingewirkt. Aber Elsa hat Vertrauen, dass sie es zusammen hinbekommen. „Wir haben eine starke Bindung.“ Sie ist sich sicher, ihre Tochter wird „verstehen, was er getan hat“ – irgendwann. Aber dafür muss sie erst nach Hause kommen.

Die Kampagne findet sich hier : https://www.gofundme.com/lea-zurueckholen

Knapp 440 Verfahren wegen Kindesentführung in 2023

Zahlen
Das Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) besteht seit 1980. Es hat das Ziel, eine schnellstmögliche Rückführung der betroffenen Kinder zu erreichen. Mehr als 100 Länder haben es unterzeichnet. Allein 2023 wurden darüber laut aktuellen Zahlen des in Bonn ansässigen Bundesamts für Justiz (BfJ) 437 neue Verfahren zur Rückführung eines Kindes angestrengt: bei 236 mit dem Ziel, dass das Kind zurück nach Deutschland kommt. Die bedeutendsten Länder sind laut BfJ die Ukraine (43), die Türkei (38) und Polen (35). Bei 201 Fällen war die Lage umgekehrt: das Kind wurde aus einem Vertragsstaat nach Deutschland gebracht. Die Entscheidung über die Rückführung eines Kindes obliege den dafür zuständigen Stellen im Entführungsstaat, erklärt das BfJ. Dabei handele es sich in der Regel um Gerichte.

Einschränkung
Die Gesamtzahlen an grenzüberscheitenden Kindesentziehungen liegen dem BfJ nicht vor. Erfasst würden nur Kindesentziehungen zwischen Vertragsstaaten des Übereinkommens. Wird ein Kind in einen Staat entführt, der das Abkommen nicht unterzeichnet wird, geht der Fall auch nicht in die Statistik ein.