Mit Iphigenie und Irene auf Reisen: Verena Wilhelm. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Goethe trifft Herta Müller, Gluck trifft elektronische Musik, und alles miteinander trifft modernen Tanz: Äußerst komplex gerät die neue „Tanzlesung“ der Stuttgarter Choreografin Katja Erdmann-Rajski im Theaterhaus. Das vielschichtige Aufeinanderprallen von Klassik und Moderne schlägt nicht etwa Funken, sondern verursacht Stirnrunzeln, wenn nicht gar Befremden.

„I - Eine Tanzlesung“ heißt das 75-minütige Stück, das neueste in Erdmann-Rajskis Tanztheaterreihe zu großem Dramen der Weltliteratur. Der Großbuchstabe vereint die beiden literarischen Figuren Iphigenie und Irene, die heimatlose Priesterin und Agamemnon-Tochter aus Goethes „Iphigenie auf Tauris“ und die geflüchtete Neudeutsche aus Herta Müllers Erzählung „Reisende auf einem Bein“. Texte aus den beiden literarischen Werken werden gegenübergestellt, Goethes Verse als getippte, filmabspannartig ablaufende Projektion auf einem schleierartigen Hänger, Ausschnitte aus Müllers Text als empathische Lesung der Sprecherin Ulrike Goetz, die an einem Tischchen in der hinteren Ecke sitzt.

Musikalische Reinkarnationen

Damit nicht genug, beide Texte bekommen musikalische Reinkarnationen zur Seite gestellt: Arien und Chöre aus Christoph Willibald Glucks „Iphigénie en Tauride“ treffen auf elektronische Schleifen und Geräusche des Karlsruher Komponisten Matthias Ockert. Im raffinierten Soundtrack von Matthias Schneider-Hollek erklingen beide auch immer wieder gleichzeitig - dazu aber noch Goethes Verse zu lesen, Müllers Worte zu hören und Verena Wilhelm tanzen zu sehen, das überfordert selbst den abstraktionsfähigsten Zuschauer.

Um sich selbst kreisende Verlassene

Die großartig konzentrierte Tänzerin zeigt Irene/Iphigenie als durchweg um sich selbst kreisende, unverwandt starrende Verlassene, fremd in dem kleinen Raum aus Tisch, Feldbett und Metallschrank. Als könnte sie so eine Identität finden, wechselt die Protagonistin ständig Klei- der und Schuhe, manchmal tauchen klassische Ballettposen in ihrem unorganischen, so gar nicht auf die Musik ausgerichteten Bewegungsablauf auf, der ansonsten Hand- oder Fußbewegungen isoliert, sie ein Hüpfspiel machen oder wie ein Tier durch den Raum irren lässt.

Die spannenden Schrift- und Videoprojektionen von Anja Abele und Oliver Feigl gemahnen mit ihrem Zoomen ins Überdimensionale oder Winzige gar an „Alice im Wunderland“, aber insgesamt bleibt die Collage um die Themen Heimweh, Furcht, Identitätsverlust einfach zu spröde. Faszinierend, dass man so viele gut und intelligent gewählte Zutaten derart unergiebig nebeneinander stellen kann.

Weitere Aufführungen im Stuttgarter Theaterhaus folgen am 12. und 13. April.