Benjamin Netanjahu (Mi.) im Gespräch mit israelischen Soldaten Foto: dpa/Avi Ohayon

In der Stunde der Not steht Israel zusammen. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat stark an Rückhalt verloren.

Vor acht Jahren veröffentlichte die rechte Likudpartei des heutigen Regierungschefs Benjamin Netanjahu im Wahlkampf einen Videoclip. Darin fahren vermummte Männer zu aggressiver arabischer Musik auf weißen Pick-ups durch eine Wüstenlandschaft. Zwei von ihnen schwenken die Fahne der Terrororganisation Islamischer Staates (IS), der zu jener Zeit weite Teile Syriens und Iraks besetzt hielt.

Plötzlich taucht neben dem Pick-up-Truck ein zweites Auto auf. Die Terroristen bremsen ab und kurbeln das Fenster herunter. „Wo geht’s hier nach Jerusalem, mein Bruder?“, fragt einer mit starkem arabischem Akzent. „Links abbiegen“, antwortet der andere Fahrer. Für all jene, die die Botschaft bis hierher nicht verstanden haben, erscheinen anschließend blutrote Buchstaben im Bild: „Die Linke kapituliert vor Terror.“

Es ist eine Botschaft, mit deren Hilfe Netanjahu seit Jahrzehnten Wahlen gewinnt: Nur er, der selbst erklärte „Mister Security“, könne das Land vor seinen Feinden schützen. Schon vor dem 7. Oktober, als die islamistische Hamas zuschlug, hatte dieses Narrativ Risse bekommen. Jetzt, nach dem schlimmsten Terrorangriff in Israels Geschichte, klingt es wie blanker Hohn.

Warum haben die Sicherheitsdienste versagt?

Die genauen Ursachen für das Versagen der Sicherheitsdienste werden wohl erst in einigen Monaten, vielleicht auch Jahren aufgeklärt. „Erst kämpfen wir, dann ermitteln wir“, ist die Parole, die Sprecher der israelischen Armee in diesen Tagen ausgeben.

Dennoch haben mehrere entscheidende Akteure schon öffentlich Verantwortung übernommen: Armeechef Herzi Halevi, der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar, und der nationale Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi. Am Donnerstag erklärte auch Israels Verteidigungsminister Joav Gala ausdrücklich, dass er persönlich die Verantwortung trage für Versäumnisse. Netanjahu jedoch schweigt zu dieser Frage.

Umfragen dagegen sprechen Bände. Der Statistiker Camil Fuchs von der Universität Tel Aviv veröffentlichte vergangene Woche eine Umfrage, die er und sein Team innerhalb der jüdischen Bevölkerungsmehrheit durchgeführt haben. Eine Frage lautete, ob die Hamas-Attacke ein „Führungsdebakel“ offengelegt habe. 84 Prozent bejahten. Und zwei Drittel der Befragten halten das Debakel für schwerwiegender als jenes, das dem Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren vorausging.

Netanjahu sorgt sich um sein historisches Vermächtnis

Bisher hatte der Krieg von 1973 in Israel als größtes nationales Trauma seit der Staatsgründung gegolten – und als Lehrstück dafür, welche fatalen Folgen die Blindheit der Sicherheitsdienste haben kann. Der 7. Oktober 2023 dürfte ihn in beiderlei Hinsicht überschatten.

Der Name der israelischen Ministerpräsidentin, die vor 50 Jahren regierte, Golda Meir, wird im kollektiven Gedächtnis des Landes wohl immer mit dem Desaster des Jom-Kippur-Krieges verbunden sein. Auch Netanjahu, der sich Kennern zufolge beinahe obsessiv um sein historisches Vermächtnis sorgt, wird seinen Namen kaum mehr reinwaschen können von der Assoziation mit den Massakern der Hamas.

„Ein persönliches Scheitern Netanjahus“

In einer Umfrage der Zeitung „Maariv“ wurden jüdische und arabische Israelis gefragt, ob sie nach dem Krieg gegen die Hamas noch Netanjahu im Amt des Regierungschefs sehen wollten oder lieber „jemand anderen“. Nur jeder Fünfte entschied sich für Netanjahu. „Anführer in Kriegszeiten erleben normalerweise einen Popularitätsschub“, kommentierte der britische „Economist“ die Erhebungen. „Der israelische nicht.“ Im Gegenteil. Über die Hälfte der jüdisch-israelischen Befragten fordern seinen Rücktritt, sobald der Krieg vorbei ist. Auch Golda Meir hatte nach dem Jom-Kippur-Krieg, den Israel nur mit amerikanischer Hilfe und unter hohen Verlusten zu seinen Gunsten wenden konnte, unter hohem öffentlichem Druck ihr Amt aufgegeben.

Die Politikwissenschaftlerin Gayil Talshir von der Hebräischen Universität in Jerusalem glaubt indes nicht, dass Netanjahu seinerseits bereit ist, eigene Verantwortung für das Desaster einzuräumen. „Ich bin sicher, er wird versuchen, es der Armee anzuhängen“, sagt sie. „Aber jedem, der Augen im Kopf hat, muss klar sein, dass das hier ein persönliches Scheitern Netanjahus war.“