Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Das Thema könnte angesichts der aktuellen politischen Lage nicht interessanter sein: die arabische Welt und ihr Verhältnis zur Moderne. Aus westlicher Sicht wird sie gerne geleitet von der konservativen, unaufgeklärten islamischen Kultur - ob es sich dabei um Frauenfeindlichkeit, antidemokratisches Denken oder Verletzungen der Menschenrechte handelt.

In der Reihe „Head to head“ behandelt das Stuttgarter Literaturhaus in Kooperation mit der American Academy Berlin seit 2012 Themen aus amerikanischer und deutscher Perspektive. Mit Robyn Creswell, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Yale University, und dem Übersetzer und Literaturkritiker Stefan Weidner waren jetzt zwei Koryphäen ihres Fachs bei dem von Pamela Rosenberg moderierten Gespräch zu Gast.

In seinem Impulsreferat machte Creswell deutlich: Das Ringen um die Moderne stehe sehr wohl im Mittelpunkt des intellektuellen Lebens der arabischen Länder. Dabei sei die Frage entscheidend, ob der Weg in die Moderne ein Verlust der historischen Identität bedeute und ob es zwangsweise in Richtung „Verwestlichung“ gehen müsse. Creswell erklärte, die interessantesten Debatten über die Moderne würden nicht in Zeitungen, Romanen oder gelehrten Abhandlungen geführt, sondern in der Lyrik. Sie sei das bedeutendste arabische kulturelle Erbe, „die Königin der Künste“ bis heute, auch wenn ihre Bedeutung langsam abnehme. „Die Dichtung ist die Chronik der Araber“, heiße nicht zufällig eine alte arabische Maxime, sie sei ein „Archiv ihrer historischen Erfahrungen“.

Meditationen über Geschichte

Dichter seien also Wächter des arabischen Erbes und gleichzeitig Personen der Öffentlichkeit. Die Frage nach Modernität gehe deshalb ans Herz ihres Selbstverständnisses. Gedichte seien einerseits Meditationen über die eigene Geschichte, andererseits zorniger Tadel an politischen Verhältnissen.

Lyrik sei im arabischen Raum nach wie vor populär, wie die Wettbewerbe für Amateure zeigten oder auch eine der beliebtesten Fernsehshows: „Dichtermillionär oder Dichter des Volkes“. Der Slogan des Arabischen Frühlings, „Das Volk will den Sturz des Regimes“, stamme von einem arabischen Dichter, dem Tunesier Abu Quasim al-Shabbi, der am häufigsten zitierte arabische Text zur Moderne, das „Manifest für die Moderne“, von Adonis. Es seien gerade die Lyriker, die in Zeiten, da Glauben und Frömmigkeit eine immer größere Rolle spielten, in ihrem Modernismus „hartnäckig säkular und kosmopolitisch“ blieben.

Schließlich könnten in der Lyrik Brücken geschlagen werden wie nirgends sonst. Der Dichter beschwöre die Vergangenheit, um einen Impuls für die Zukunft zu gewinnen. Da gäbe es zwei Strategien: die der Beduinenlyrik der vorislamischen Zeit, in denen sich der Dichter an bestimmten Orten, etwa verlassenen Lagern, vergangener Ereignisse wie erotischer Abenteuer oder Schlachten erinnerte; andererseits die Übernahme alter Formen wie der Elegie, die als Vehikel für die Klage etwa um Städte wie Bagdad, Damaskus, Beirut oder geliebte Menschen diente.

Modernität und Urbanität

Stefan Weidner erinnerte daran, dass die traditionelle Form der arabischen Lyrik, in der sämtliche Verse eines Gedicht dieselbe Reimendung aufweisen, erst in den 1930er- und 1940er-Jahren aufgebrochen wurde. Einer, der sich für eine solche Poesie eingesetzt habe, sei Ali Ahmad Said, einer der bedeutendsten arabischen Lyriker. Geboren 1930 in Syrien und heute im Pariser Exil lebend, habe sich der Poet bewusst für einen Künstlernamen entschieden, der an einen antiken Wiedergeburtsmythos erinnere: Adonis.

Angesichts der Tatsache, dass Modernität auch Urbanität brauche, suchte Adonis Vorbilder in der alten Dichtung und fand Abu Nuwas (756-814), einen „arabischen Baudelaire“, dessen urban geprägte Gedichte obszön gewesen seien und ebenso vom Weingenuss wie von der Knabenliebe handelten. Araber brauchten also keineswegs die westliche Moderne zu kopieren, sie fänden sie in der eigenen Tradition, die sich dann mit dem Zerstörerischen der industriellen Moderne verbinden ließe. Was bei Adonis so klingt: „Das Minarett weinte, / als der Fremde kam./ Er kaufte es ohne Not / und machte daraus einen Schlot.“

Neben dem umstrittenen, mittlerweile über 80-jährigen Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis-Träger - Adonis stellte 2011 die syrische Revolution in Frage mit der Begründung, die syrische Gesellschaft sei noch nicht reif für eine Revolution - kam noch ein anderer, vor allem klassenkämpferischer und antikolonialistischer Dichter zur Sprache: der 1941 geborene Palästinenser Mahmud Darwisch, der die „poetische Stimme seines Volkes“ genannt wurde. Sein berühmtestes Gedicht: „Schreib’s auf! Ich bin Araber, / ich placke mich ab wie meine Gefährten im Steinbruch …“. Aber Darwisch ist schon 2008 gestorben. Wie es um die jüngere arabische Poesie steht, ließ der interessante Abend indessen weitgehend offen.