StuttgartAls Edelgard Huber von Gersdorff in Gera das Licht der Welt erblickt, regiert Kaiser Wilhelm II. das Deutsche Reich. Wenige Monate zuvor ist in den USA die Stadt Las Vegas gegründet worden. Und Albert Einstein veröffentlicht seine Abhandlung zur speziellen Relativitätstheorie. Man schreibt das Jahr 1905 – und die Welt sieht noch vollkommen anders aus als heute.
Die weißhaarige Dame sitzt in ihrer Wohnung in Karlsruhe und schmunzelt. „Ich bin nichts Besonderes“, sagt sie. Da würde wohl mancher widersprechen. Edelgard Huber von Gersdorff ist sage und schreibe 112 Jahre alt. Sie gilt damit als älteste lebende Frau Deutschlands.
Nur ein Mann aus Sachsen-Anhalt bringt es auf einige Wochen mehr. Die aufgeweckte Frau zählt zu den ältesten Deutschen aller Zeiten. Sie sieht inzwischen zwar schlecht und sitzt im Rollstuhl, nimmt aber noch rege am Weltgeschehen teil. Das wird schnell deutlich. „Ich schätze Angela Merkel sehr. Sie ist eine überzeugte Europäerin“, sagt sie.
Genau wie die 112-Jährige selbst. Darauf ist auch Nils Bunjes vom Stuttgarter Europa-Zentrum gestoßen. An diesem Tag sitzt er neben der Rekordhalterin, denn er hat Großes vor. Das Zentrum bewirbt die Notrufnummer 112, die europaweit gilt. Das aber wissen nach wie vor viele Menschen nicht. Da braucht’s eine besondere Werbefigur. Und wer könnte sich da besser eignen, als eine Dame, die genau 112 Jahre alt ist und ihr Leben lang nicht viel von Staatsgrenzen gehalten hat? Also wird Edelgard Huber von Gersdorff an diesem Tag zur Ehren-Schirmherrin für die Notrufnummer ernannt. Sie posiert geduldig mit dem dazugehörigen Schild für die Fotos. Und Bunjes ist sichtlich beeindruckt: „Das ist wirklich eine ganz besondere Begegnung in meinem Leben“, sagt er tief bewegt.
Eine geeignetere Werbeikone hätte er wohl kaum finden können. Die 112-Jährige hat Kleinstaaterei, zwei Weltkriege, Hass und Vertreibung erlebt. Sie hat als junge Frau – damals war sie begeisterte Sportlerin – Kinderlähmung erleiden müssen und sich trotzdem nicht unterkriegen lassen. Sie zog mit ihrer Familie nach Karlsruhe, studierte Chemie und Jura, arbeitete schließlich bis zur Rente als Justiziarin bei einer Bank. Jede Woche fuhr sie in dieser Funktion einmal nach Stuttgart, kennt die Stadt gut. Auch nach dem Tod ihres Mannes vor drei Jahrzehnten blieb sie hochinteressiert am Reisen, an Geschichte und Politik. All das lässt für Engstirnigkeit keinen Platz.
Mit 100 noch Italienisch gelernt
„Ich bin dafür, die Welt zu vereinen“, sagt die 112-Jährige. Mit 100 hat sie begonnen, etwas Italienisch zu lernen. Schließlich ist sie trotz aller Alterserscheinungen nach wie vor gerne unterwegs. Die europäische Einigung hält sie für einen Segen – wenngleich es ihr in Brüssel nicht schnell genug voran geht. Und sie verfolgt die Auseinandersetzung um die Asylpolitik: „Ich ärgere mich, wenn ich lese, dass manche Länder in der EU keine Flüchtlinge aufnehmen.“
Huber von Gersdorff erzählt gerne Gästen aus ihrem Leben, wenn die Gesundheit das zulässt. „Bei mir kann kommen, wer will“, sagt sie – und neckt ihre Pflegerin und Freundin, die sich um sie kümmert, weil sie ihr nahelegt, mal einen Schluck zu trinken: „Das ist eine Kommandeuse.“ Allerdings eine, mit der sie schon viel unterwegs gewesen ist – und noch weitere Reisen plant. „Wir wollen im Frühling nach Straßburg, vielleicht auch noch nach Malta“, sagt sie.
Eine Gelegenheit, die Nils Bunjes nutzen will. „Meine Hoffnung ist, dass unsere neue Ehren-Schirmherrin im Frühjahr während der Sitzungswoche des Europäischen Parlaments nach Straßburg reisen kann“, sagt er. Dann würde er ein Treffen mit dem Parlamentspräsidenten organisieren. Das Verkehrsmittel wäre kein Problem: Bei Bunjes hat sich bereits eine Europaabgeordnete gemeldet, die den besonderen Gast mit einem Dienstwagen abholen lassen würde.
Bis dahin treibt Huber von Gersdorff noch eine ganz andere Frage um: Wann steht endlich die Große Koalition in Deutschland? Zögern und Zaudern ist nicht ihr Ding. Auch nicht bei der eigenen Fitness. Mit etwas Hilfe absolviert sie jeden Tag eisern Muskelübungen. Einrosten will man ja schließlich auch mit 112 Jahren nicht. Schon gar nicht, wenn man jetzt Ehren-Schirmherrin für eine gute Sache ist. Für Edelgard Huber von Gersdorff ist das eine Selbstverständlichkeit. Kein Grund, viel Aufhebens zu machen. Genauso wenig wie um ihr Alter. „Das ist Schicksal“, hat sie im vergangenen Dezember bei ihrem 112. Geburtstag den vielen Gästen gesagt. Nichts Besonderes eben.