Das neue und das alte Gesicht des Feminismus und Deutschlands mächtigste Frau (v. li.): Internet-Aktivistin Anne Wizorek, Alice Schwarzer und Angela Merkel. Fotos: dpa / Montage: Repro Quelle: Unbekannt

Trotz Frauenquote könnte es bei einer „Vermännlichung“ von Verhaltensmustern ­bleiben. Nach der formaljuristischen Gleichstellung der Frau ging es um eine alles umfassende Selbstbestimmung.

Von Sandra P. Thurner

Was haben Hildegard von Bingen, Juli Zeh, Helene Fischer, Angela Merkel, Malala und Lady Gaga gemeinsam? Nichts. Außer dass sie Frauen sind - wie derzeit weitere 3,631 Milliarden Menschen der Weltbevölkerung. Was zeichnet heute eine Frau aus? Wahrscheinlich gibt es so viele Definitionen von Frausein, wie es Frauen gibt - und das ist gut so und dort richtig, wo Frauenrechte geachtet werden und Emanzipation realisiert wird. Simone de Beauvoir, französische Feministin und Existenzialistin, gab bereits 1949 in ihrer Abhandlung „Das andere Geschlecht“ zu bedenken: „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ Die gesellschaftliche Komponente wird von ihr als das prägende Moment in der Entwicklung von Frauen verstanden, und diese Auffassung etablierte sich als Prämisse der Gleichstellung der Geschlechter bis heute. Nicht ein mangelndes Denkvermögen, wie es von vielen Männern bis zum Aufkeimen erster feministischer Bewegungen angenommen wurde, sondern Ausschlüsse aus der Öffentlichkeit, Bildungsbarrieren und Berufsverbote machten Frau zu Menschen zweiter Klasse. In vielen Ländern der Erde gilt diese patriarchalische Überzeugung noch immer. Auch deshalb sind weibliche Vorbilder aus der Geschichte wie in der Gegenwart wichtig, die das moderne Frauenbild vor- und mitgezeichnet haben und die noch immer wirksam mit den kruden Thesen vom schwachen Geschlecht aufräumen.

Bereits in der Antike gab es Philosophinnen, die das Denken dieser Zeit nachhaltig geprägt haben und trotz ihrer schwachen gesellschaftliche Stellung ein reges geistiges Leben führten - allerdings nicht in der Form schriftlich fixierter Werke, sondern, ebenso wie Sokrates, durch Reden und philosophische Diskurse. Beispiele sind Aspasia von Milet (um 470 vor Christus), die in Athen einen philosophischen Salon gründete, oder Hipparchia (um 340 vor Christus), die eine Anhängerin der Philosophenschule der Kyniker war. Letztere ist bekannt für ihren Einsatz für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung und Bildung und kann daher als eine der ersten Frauenrechtlerinnen verstanden werden.

Mit der Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) trat im christlichen Mittelalter eine überragende Frauengestalt als Universalgelehrte und Mystikerin, Philosophin und Dichterin aus dem Schatten der Männerwelt. Bekannt ist sie vor allem durch ihre Beschäftigung mit der Medizin und Heilkunde., woraus ein Lehrbuch entstand.

In ihre Fußstapfen traten Frauen wie die Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan (1364 bis 1430), viel später die Revolutionärin Olymp de Gouges (1748 bis 1793), nach der französischen Revolution Verfasserin einer Erklärung der Rechte der Frau, welche eine vollständige rechtliche und politische Gleichstellung der Geschlechter forderte. Aus der allmählich wachsenden Frauenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts könnten viele herausragende Vertreterinnen der Emanzipation genannt werden, etwa die Unternehmerin Margarete Steiff oder die Modemacherin Coco Chanel, welche die Frau vom Korsett befreite. Später dann Frauen wie die politische Philosophin Hannah Arendt oder Feministinnen wie Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer. Die Gründerin und Herausgeberein des Frauenmagazins „Emma“ ist bis heute eine der bekanntesten Vertreterinnen der sogenannten neuen Frauenbewegung. Diese erweiterte die älteren Forderungen: „Nach der formaljuristischen Gleichstellung der Frauen stand nun der Wunsch nach einer alles umfassenden Selbstbestimmung im Mittelpunkt. Dazu gehörten neben der körperlichen auch die psychische sowie die intellektuelle und kulturelle Selbstbestimmung“, schreibt Michaela Karl, Politikwissenschaftlerin und Autorin von „Die Geschichte der Frauenbewegung“. Zu dieser Selbstbestimmung zählten Schwarzer und ihr Umfeld auch die Straffreiheit der Abtreibung. 1971 bekannten 374 Frauen in einem Artikel im Nachrichtenmagazin „Stern“: „Wir haben abgetrieben“. Initiiert wurde die Aktion von Schwarzer, die sie im Nachhinein so bewertete: „Diese Frauen haben ein kollektives Bekenntnis abgegeben und bewiesen damit ungeheuren Mut.“ Unter der Parole „Mein Bauch gehört mir“ wurde der Kampf gegen den Paragraphen 218 zu einem Schlüsselkonflikt und zum Auslöser für die neue Frauenbewegung.

Mit ihrem Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“, 1975 erstmals veröffentlicht und bis heute ein Longseller, traf Alice Schwarzer den Nerv der Zeit, den Nerv vieler Frauen. Das Engagement der Alice Schwarzer gilt der feministischen Emanzipation in all ihren Aspekten, und dies weit über die Grenzen Europas hinaus. Ihr energischer Einsatz und die Diffamierungen, die sie ertragen musste, hinterließen offenkundig auch Spuren in ihrem einst mit weichen Zügen ausgestatteten Gesicht. Ihr Lebenswerk muss man - trotz herber Kritik auch von feministischer Seite - respektieren. Doch hat die inzwischen 73-jährige Schwarzer noch eine Bedeutung für heutige Frauen? Viele jüngere Frauen erinnern sich an die Altfeministin, wie sie mittlerweile bezeichnet wird, vor allem im Zusammenhang mit ihrem unglücklichen TV-Streitgespräch von 2001 mit Verona Pooth (damals Feldbusch), die heute - zumindest in den Massenmedien - weitaus populärer ist als eine Alice Schwarzer. Auch die 19-jährige, aus Esslingen stammende Jurastudentin Sarah Hägele weiß von dem legendären Rededuell im Fernsehen, das heute durchs Internet zirkuliert. Sie kennt Schwarzer als Klassikerin der deutschen Frauenbewegung und schätzt ihren Einsatz für die Emanzipation, betrachtet aber auch die Unternehmerin Verona Pooth als „starke Frau“. Die alten Konfliktlinien scheinen sich in jüngerer Wahrnehmung zu verwischen und gleichzeitig zu globalisieren. Denn vor allem gilt Sarah Hägeles Anerkennung einer jüngeren Kämpferin für Frauenrechte in einem wesentlich repressiveren und patriarchalischeren Umfeld, nämlich der heute 18-jährigen pakistanischen Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai: „Ihre Stärke in diesem jungen Alter, ihre Selbstlosigkeit und ihren Mut, trotz des Attentats durch die Taliban, für die Rechte von Mädchen auf Bildung weiterzukämpfen - das bewundere ich an ihr.“

Verglichen damit war das Schwarzer-Feldbusch-Gespräch kaum mehr als ein Mediengag von äußerst begrenztem Belang. Im Kern wurden damals Intellekt und weibliche Attraktivität gegeneinander ausgespielt. Ist das tatsächlich unser Problem? Anne Will, Manuela Schwesig, Sahra Wagenknecht und andere prominente, erfolgreiche Frauen scheinen das Gegenteil zu beweisen, sie vereinen beides. Sind sie also die legitimen Vorbilder junger Frauen? Oder verliert insgesamt noch immer der Intellekt, und Schwarzer hat mit ihrer alten Kampfansage nach wie vor recht? Wenn man Sendungen wie „Shopping Queen“, „Germany‘s Next Topmodel“ oder Stars wie Miley Cyrus und Beyoncé betrachtet, fragt man sich schon, warum die äußere Seite von Frauen in ihrer Wertigkeit immer noch so dominierend ist und ob das emanzipierte Frauenbild dadurch nicht demontiert wird. Allerdings birgt das Spiel mit weiblicher Attraktivität und sexuellen Reizen eine doppelte Paradoxie: Zum einen werden die genannten Medienprodukte nicht zuletzt und teilweise sogar überwiegend von Frauen konsumiert, die darin in postfeministischen Zeiten offenbar keinen Widerspruch mehr zur eigenen Selbstbestimmung sehen. Zum anderen ist die Zurschaustellung von Nacktheit ambivalent: In werblichen Zusammenhängen tendiert sie zum Sexismus, im Kontext politischen Protests kann sie aber auch heutzutage noch einen Tabubruch oder zumindest eine Provokation gegen repressive Sexualmoral bedeuten. Dies gilt für die feministische Gruppe Femen: Die globalen Aktivistinnen versuchen seit 2010, durch „Oben-ohne-Auftritte“ Frauenrechten Aufmerksamkeit zu verschaffen - was ihnen gelingt, aber mit dem Risiko, eben doch wieder nur sexistische Blicke auf sich zu ziehen.

Beim Thema Werbung ist freilich ein neues, anti-sexistisches Kapitel an der Zeit. Seit Jahren soll ein Gesetz verabschiedet werden, das die Darstellung entblößter Frauen in der Werbung verbietet - falls kein zwingender Zusammenhang mit dem Produkt besteht. Bis es so weit ist, verleiht die Menschenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ weiterhin den „Zornigen Kaktus“ für besonders frauenfeindliche Werbung.

Doch genauso wenig wie man Intellekt gegen Attraktivität - bei Frauen wie bei Männern - ausspielen kann, sollte man die Geschlechter strikt entgegensetzen. Der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung entwickelte das Konzept der Anima, der weiblichen Seelenanteile im Unbewussten des Mannes, und gegenläufig des Animus, der männlichen Seite der weiblichen Psyche. Diese archetypischen Polaritäten gilt es zu harmonisieren und zu integrieren, denn sie können sowohl positiv als auch negativ wirken. Eine Verdrängung unter dem Zwang von Rollenklischees führt zu Überbesetzungen jeweils einer Seite - mit letztlich selbstverleugnenden, neurotischen Folgen. Der Mann etwa, der seine weiblichen Aspekte unterdrückt, reduziert sich auf ein fremdbestimmtes Muster von Männlichkeit und bringt sich dadurch um wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten seiner Persönlichkeit. Umgekehrt formulierte Jungs Mitarbeiterin Marie-Louise von Franz: „Viele Frauen sind nur deshalb in einem negativen Animus so zu Hause, weil sie ihre eigenen kreativen und geistigen Fähigkeiten nicht ausleben können.“ Leider verleugnen Frauen in Führungspositionen allzu oft ihre weiblichen Anteile wie Intuition, Sensibilität und Kreativität, was dazu führen könnte, dass es - trotz Frauenquote - bei einer „Vermännlichung“ von Verhaltensmustern bleibt statt ein Gleichgewicht femininer und maskuliner Denk- und Handlungsweisen zu erreichen.

Ulrike Völter-Hellmich, die kommissarische Leiterin der Volkshochschule Esslingen, betrachtet diese Entwicklung kritisch: „Genau dadurch geht die viel beschworene Diversität, die Verschiedenheit, verloren.“ In vielen Unternehmen werde deshalb die Führungsspitze mit einem sogenannten Tandem aus Frau und Mann besetzt, um dadurch eine Art Ausgleich zu schaffen. Denn gefordert seien eben auch weibliche Stärken wie Empathie, Team- und Motivationsfähigkeit. „Frauen müssen sich wahrlich nicht verstecken“, findet Völter-Hellmich.

„Moment! Wir haben zwar viel erreicht, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht: Aber wir sind noch lange nicht am Ziel“, sagt Anne Wizorek, Medienberaterin, Internet-Aktivistin und eine der bekanntesten Vertreterinnen eines „Feminismus von heute“. Sie löste Anfang 2013 mit ihrer Twitter-Aktion unter dem Hashtag „Aufschrei“ zum Thema Diskriminierung und sexuelle Belästigung eine Lawine von Reaktionen aus: Innerhalb kürzester Zeit folgten 57 000 Twitter-Nachrichten. Sie berichteten von selbst erfahrener sexueller Anmache und von Übergriffen, viele lobten die Aktion, einige übten Kritik. Das Medienecho war enorm.

Eines der wichtigsten Anliegen Wizoreks ist die Frauenquote für Führungspositionen. Im Jahr 2015 hat die Bundesregierung endlich - mit Wirksamkeit zum 1. Januar 2016 - eine solche Quotenregelung gesetzlich eingeführt. Frauen- und Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) lobt das von ihr vorangebrachte Gesetz als „historischen Schritt für die Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland“. Die feste Quote von 30 Prozent bei der Neubesetzung von Aufsichtsräten in größeren Unternehmen und die Flexiquote für kleinere Unternehmen sind aus Wizoreks Sicht allerdings nicht genug: „Bleiben also noch beachtliche 70 Prozent der Posten für Männer übrig.“ Außerdem kritisiert sie: „Es reicht nicht aus, eine Quote zu etablieren und den professionellen Nachwuchs von morgen aufzubauen, wenn das eigentliche Arbeitsumfeld am Ende dasselbe bleibt und der Nachwuchs immer wieder an denselben Strukturen scheitert.“ Die Quote könne daher nur ein Anfang sein. Auch Ulrike Völter-Hellmich findet die Quote im Sinne einer ersten Wegbereitung für Frauen sinnvoll, da der Appell an die Freiwilligkeit leider nicht viel geändert habe. Sie vertraut darauf, dass sich durch den höheren Frauenanteil das Führungsverhalten ändert und auch auf die bestehenden Strukturen positiv auswirkt. Ganz im Sinne des Philosophen Michael Conradt: „Die Weisheit ist weiblich - nicht nur grammatikalisch.“