Durch einen Gruppentanz in Masken und Flügeln ließ das Ensemble exotische Vogelwelten aufleben. Foto: Weber-Obrock Quelle: Unbekannt

Von Petra Weber-Obrock

Auf der Bühne stehen eine rothaarige junge Frau in einem Fransenshirt und ein Mann mit einer Handtrommel. Langsam, fast zögernd beginnt das Mädchen, sich nach den klaren Rhythmen der Trommel zu bewegen. Ihre fragile, zarte Gebärdensprache wird immer wilder, bis ihr Körper in Bewegungen zu explodieren scheint. Nicole Tannenbaum ist gehörlos. Sie spürt nur die Vibration, die sich auf Luft und Boden überträgt, und sieht die Hand des Trommlers Hans Fickelscher auf und abschwingen. Dennoch gelingt ihr im Tanz eine Manifestation unmittelbaren eigenen Ausdrucks, die mitten ins Herz geht.

In seinem neuen Projekt „Tanz mit der Schönheit“ hat der französische Choreograf und Filmemacher Grégory Darcy Menschen mit und ohne Behinderung ein Podium in der ebenso elementaren wie unmittelbaren Sprache des Tanzes geboten. Am Donnerstagabend feierte das Stück auf der Bühne der Dieselstraße seine überaus erfolgreiche Premiere. Die Veranstaltung war restlos ausverkauft, und zum Abschluss dankte das Publikum den Mitwirkenden mit Ovationen und Fußgetrappel. In „Tanz mit der Schönheit“ geht es um eine Erweiterung der Grenzen unserer Sehgewohnheiten. Darcy hinterfragt den Begriff der Schönheit an sich.

Wenn im Hintergrund Sandro Botticellis Bild „Die Geburt der Venus“ auf einen Fadenvorhang projiziert wird, dann spiegelt sich darin ebenso unser seit der Antike tradiertes Schönheitsideal wie seine Fragilität, die ein Hauch in Bewegung bringen kann. Gemeinsam setzten Tänzer mit und ohne Einschränkung ihre Formen des Ausdrucks gegen den überkommenen Kodex der Schönheit und waren dabei eines: wunderschön. Es tanzten Diana Weinhardt und Helmut Glaser, die sehbehindert beziehungsweise blind sind, Julius Könekamp und Lisa Schübler, die eine geistige Behinderung haben, und die gehörlose Nicole Tannenbaum gemeinsam mit den professionellen Tänzern Irena Trisic und Mohammad Reza Golemohammad aus Serbien und dem Iran. Die Lichtregie und die Kostüme umrahmten die Tanzszenen dabei mit einer fast rauschhaften Farbigkeit in Türkis, Lila, Violett, Rot und Gelb.

Nach dem Solo von Nicole Tannenbaum ragten plötzlich zwei Blindenstöcke in die Bühne hinein. Gemeinsam mit den Tanzprofis trafen sich die beiden sehbehinderten Tänzer zu einem Quartett, wobei nicht immer klar war, wer wen dabei an der Hand nahm. Ein Gruppentanz in Masken und Flügeln ließ Anklänge an exotische Vogelwelten aufleben. Traumverloren, poetisch und herzergreifend ging es weiter. Mal trafen sich Paare auf der Bühne, dann wieder fand sich eine lange Reihe Tänzer zusammen, die sich mit der Weitergabe eines Bewegungsimpulses beschäftigten oder eine leuchtende Kugel umringten, die wie ein auf die Erde gefallener Mond wirkte. Fast beängstigend in seiner Dynamik schien dagegen ein ausgelassener Volkstanz im Stil eines Sirtaki.

Zum Abschluss folgte noch ein lebendiges Bild, das die „Geburt der Venus“ nachstellte. Dabei wirkten die Profitänzer unterstützend und katalysierend. Für die sphärischen Klänge sorgte ein Ensemble bestehend aus Hans Fickelscher an der Percussion, der Sängerin Nina H., die auch Flöte und Harfe spielte, Mazen Mohsen an der Gitarre und Sebastian Siepmann am Drum Pad.

Unterstützt wurde die Aufführung nicht nur von der Dieselstraße, sondern auch durch das Kulturamt der Stadt Esslingen und die Aktion Mensch. Sichtlich erleichtert standen die Künstler dem Publikum nach der Vorstellung für ein Gespräch zur Verfügung. Grégory Darcy, der mittlerweile im Remstal lebt, erklärte seine Motivation. „Die Gesellschaft betrachtet Menschen mit Behinderung nicht als schön“, sagte er. „Ich will zeigen, dass ihre ganz besonderen Fähigkeiten eine Bereicherung für uns alle sein können.“ Sechs Monate Zeit hatte das Ensemble insgesamt. Die ersten drei brauchte man, um sich zu finden. Dann entstanden die Szenen nach und nach aus den Möglichkeiten, die sich einzeln und in der Gruppe herauskristallisierten. Zum Abschluss wünschte Darcy sich weitere Entfaltungsmöglichkeiten für sie, wobei ihm neue Projekte unter anderem mit Gehörlosen vorschweben. Dafür, und für weitere Aufführungen von „Tanz mit der Schönheit“ bräuchte es allerdings noch finanzielle Unterstützung.