Quelle: Unbekannt

Von Dagmar Weinberg

Der Erste Weltkrieg wurde mit einem bis dahin nicht vorstellbaren Aufwand an industriell gefertigten Waffen und Munition bestritten. Entscheidend für Sieg oder Niederlage waren aber nicht nur gut funktionierende Transportwege, über die der Nachschub an die Front rollte, sondern auch der Zugang zu Rohstoffen. Und da hatten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn schlechte Karten. Sie waren von ihren Feinden umzingelt, die ihnen den Zugang zu den Weltmärkten und Weltmeeren blockierten. So wurde es schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn schwierig, Soldaten und Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Gleichzeitig gab es erste Engpässe bei den Rohstoffen, die für die Produktion von Rüstungs- und Konsumgütern gebraucht wurden. Um den Nachschub sicherzustellen, wurden auch in Esslingen fleißig Rohstoffe gesammelt - vom goldenen Ehering über Wollreste und Frauenhaar bis hin zu Kirchenglocken und Metallen. Martin Beutelspacher, Leiter der Esslinger Museen, hat bei seinen Recherchen einige Gegenstände - darunter ein Abendmahlskelch aus Zinn - entdeckt, die gerettet werden konnten und jetzt als Objekte des Monats im Stadtmuseum gezeigt werden.

Eheringe aus Eisen

Buntmetalle waren besonders gesucht. Die damals so genannten „Sparmetalle“ Kupfer, Nickel, Zinn, Aluminium, Antimon und Hartblei waren in all ihren Legierungen von 1915 an meldepflichtig und galten als beschlagnahmt. Das betraf industrielle Vorräte ebenso wie bronzene Denkmäler in den Städten, Bronzeglocken in den Kirchen oder auch aus Kupferblech gefertigte Dächer. In Esslingen wurde im Gebäude der Alten Lateinschule, der heutigen Stadtkämmerei in der Abt-Fulrad-Straße, eine Städtische Metallsammelstelle eingerichtet.

Man lebte, so die Propaganda, in „Eiserner Zeit“ und lieferte als guter Deutscher sein Gold ab. Auch Eheringe blieben nicht verschont. „Wer Goldschmuck trug, war deutlich als ‚nicht national’ gebrandmarkt. Schmuck aus geschwärztem Eisen wurde modisch und war politisch korrekt“, erklärt der Museumschef. Mit den Sammlungen unterstützte man die eigenen Angehörigen im Kriegseinsatz, aber auch die Kriegsführung insgesamt. Die Bemühungen an der so genannten „Heimatfront“ waren teils freiwillig, teils unter Zwang erbracht.

Um metallene Kunstgegenstände entwickelte sich mitunter ein regelrechter Verteidigungskampf, wenn Sachverständige einzelne Gegenstände aus den Sammlungen wegen deren historischer oder künstlerischer Bedeutung zurückzuhalten versuchten. In Esslingen wurde der Altertumsverein für die Bewertung historischer Objekte zu Rate gezogen. 1917 wurde er gebeten, die abgelieferten Zinngegenstände zu begutachten und konnte einige wenige retten.

In der Sammlung des Geschichts- und Altertumsvereins hat Martin Beutelspacher vier Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert entdeckt, die den Schmelzöfen entkommen sind. Das wertvollste Objekt ist ein Abendmahlskelch, den der gebürtige Esslinger Meister Johann Friedrich Wagner zwischen 1749 und 1781 aus reinem englischem Zinn angefertigt hat. „An seiner beachtlichen Größe ist dieser barocke Kelch deutlich als protestantischer Abendmahlskelch zu erkennen, aus dem die Gemeindemitglieder jeweils einen Schluck nehmen“, erläutert Beutelspacher. Bei den drei anderen geretteten Gegenständen handelt es sich um eher

Foto: Buhl

einfache Gebrauchsgegenstände: ein Trinkbecher, ein Salzgefäß und die Laffe eines Vorlegelöffels, dessen hölzerner Griff jedoch fehlt.

Schon im Juli 1916 hatten die Kirchengemeinden zahlreiche Kirchenglocken zum Einschmelzen abgegeben. Im Frühjahr 1917 wurden dann alle Glocken offiziell beschlagnahmt. „Nur besonders alte oder künstlerisch wertvolle Glocken hatten die Chance, nicht eingeschmolzen zu werden“, berichtet der Museumsleiter. Nach seinen Recherchen wurden aus Esslingen mindestens zwölf Kirchenglocken abgeliefert: je zwei aus der Frauenkirche, aus St. Bernhardt und aus Oberesslingen und je eine aus der Ostkirche (heute: Johanneskirche), der Friedenskirche, aus Mettingen und Sulzgries sowie eine ganz neue Glocke. Als letzte wurde am 21. August 1918 die mächtige 900 Kilogramm schwere Vaterunser-Glocke der Stadtkirche abgenommen. „Aber da war es bereits so spät, dass sie nicht mehr eingeschmolzen werden konnte. Sie konnte nach dem Krieg zurückerworben und neu aufgehängt werden.“

Frauenhaar für U-Boot-Dichtungen

Gesammelt wurde aber nicht nur Metall, sondern auch Leder für Pferdegeschirre und Schuhe, Frauenhaar für Dichtungen in den U-Booten oder Treibriemen. Da Wolle und Baumwolle nicht mehr importiert werden konnten, wurden Textilien mit Fortschreiten des Krieges immer knapper. Bei der „Esslinger Wolle“ und der Württembergischen Baumwollspinnerei und Weberei verarbeitete man deswegen Papierfasern.

Auch die Kleinsten litten unter dem Rohstoffmangel. Weil es für Säuglinge keine geeigneten Textilien für Windeln mehr gab, organisierte die Esslinger Fabrikantenwitwe und Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, Anna Grün, 1918 „Windelwochen“. Seit 1916 betrieb sie eine Flickwerkstätte mit bis zu 100 Beschäftigten auf dem Gelände der ehemaligen Bayer & Leibfriedschen Württembergischen Holzwarenmanufaktur in Oberesslingen. Gemeinsam mit dem Nationalen Frauendienst betrieb der Deutsch-Evangelische Frauenbund im Feuerwehrmagazin in der Kiesstraße eine Textilsammel- und -verteilungsstelle. Ab 1919 saß Anna Grün dann als erste Frau für die Württembergische Bürgerpartei im Esslinger Gemeinderat.

Bei den Rohstoffsammlungen taten sich vor allem die Schulen hervor. Allein die Schelztor-Oberrealschule lieferte während des Krieges Gold im Wert von 40 000 Mark Gold ab. Zudem wurden 126 Kilogramm „Sparmetalle“, 6700 Kilo Papier, 792 Bücher, 334 Hüte, 87 Kilo Obstkerne, elf Kilo Sonnenblumenkerne, 343 Kilo Bucheckern, 574 Kilo Frauenhaare und Brennnesseln, 50 Kilo Quecken sowie 8600 Kilo Laub als Einstreu fürs Vieh gesammelt.

Am Ende des Krieges war das ganze Land völlig ausgeplündert. Dass es deswegen nicht zu Aufständen kam, lag zu einem großen Teil daran, „dass man in Esslingen und anderen Orten fernab der Front das Gefühl hatte, mit diesen Anstrengungen und Einschränkungen seinen Teil zum großen Kampf und einem erhofften Sieg beizutragen“.Am Ende halfen aber weder die zusammengetragenen Materialien noch neue Produktionstechniken und Effektivitätssteigerungen in den Betrieben gegen die zahlenmäßig und wirtschaftlich vielfach überlegenen Gegner.

Die Eßlinger Zeitung begleitet als Kooperationspartnerin das Stadtarchiv und das Stadtmuseum bei der Präsentation von 52 „Objekten des Monats“. Sie werden als Teil des historisch-kulturellen Langzeitprojekts „52 x Esslingen und der Erste Weltkrieg“ im Gelben Haus am Hafenmarkt präsentiert. Die wachsende Ausstellung der Objekte, die aus öffentlichem und privatem Besitz zusammengetragen werden, will von August 2014 bis Oktober 2018 auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs speziell aus Esslinger Perspektive aufmerksam machen.

Am Dienstag, 4. April, stellt Martin Beutelspacher um 18 Uhr die Objekte des Monats in der Schickardt-Halle des Alten Rathauses vor. Anschließend hält Professor Gerd Krumeich einen Vortrag mit dem Titel „1917 - Verbrannte Erde, Revolutionen und der Kriegseintritt der USA“. Der Freiburger Historiker gilt als einer der profundesten Kenner der Geschichte des Ersten Weltkriegs. Der Eintritt ist frei.