Die Erinnerung an ihre Esslinger Vorfahren ist bei Linda Wette noch immer sehr präsent. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Wenn Linda Wette durch die Esslinger Altstadt geht, fühlt sie sich wie zuhause. Die alten Häuser, die schmalen Gassen und die malerischen Sehenswürdigkeiten - all das ist ihr wunderbar vertraut. Dabei ist die 74-Jährige nur im Herzen Esslingerin - ihr Lebensmittelpunkt ist Mahwah im US-Bundesstaat New Jersey. Doch wann immer es ihre Zeit und ihr Geldbeutel erlauben, zieht es Linda Wette ins Neckartal. Aus Esslingen stammen ihr Vater Richard Mezger und ihr Großvater Gottlob Wilhelm Mezger, der zunächst Lokführer und später Fabrikant war. Und weil ihr die familiären Wurzeln am Herzen liegen, hofft sie schon lange, mit ihrer hiesigen Verwandtschaft in Kontakt zu kommen. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn die private Ahnenforschung birgt viele Schwierigkeiten, und die Recherche in Personenregistern brachte weniger Erfolg als erhofft. Doch Linda Wette gibt nicht auf. Ehe sie sich gestern wieder auf den Weg in die USA gemacht hat, schaltete sie eine Zeitungsannonce, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.

Bewegte Familiengeschichte

Die Geschichte ihrer Familie ist Linda Wette noch sehr präsent - und sie könnte vermutlich dicke Bücher füllen mit all ihren Erinnerungen und den Erzählungen ihrer Eltern. Ihre Mutter Lotte war 1926 aus Leipzig in die USA ausgewandert - in der Heimat hatte sie vergeblich nach Arbeit gesucht. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn fand sie schließlich einen Job als Haushälterin - und die Liebe ihres Lebens: Richard Mezger. Der gelernte Werkzeugmacher war 1927 auf der Suche nach einer beruflichen Perspektive ebenfalls in die USA ausgewandert. In einer Tanzdiele traf er seine Lotte, und weil sie spürten, dass sie zusammenpassen, wurde geheiratet. Linda Wettes ältere Schwester wurde 1933 geboren - drei Jahre später kamen die Eltern zurück nach Deutschland. Doch dort hielt es sie nicht allzu lange: Hitler hatte die Macht im Land, und Linda Wettes Großmutter muss wohl gespürt haben, was das heißt: „Sie hat meine Eltern gewarnt, dass es immer stärker nach einem drohenden Krieg riecht.“ Deshalb gingen sie nach kaum einem Jahr zurück in die USA. 1939 war klar, dass die Großmutter Recht gehabt hatte.

Linda Wette kam 1942 in den USA zur Welt. Wenn sie heute von Vater und Mutter spricht, schwingt große Zuneigung in ihren Worten mit: „Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Ich habe mit meinen das große Los gezogen.“ Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass es sie bis heute immer wieder nach Esslingen zieht: „Mein Vater hat mir viel von seiner Heimatstadt erzählt. Die Altstadt, die Burg, einzelne Gaststätten und Geschäfte, alteingesessene Firmen - all das ist mir sehr vertraut.“

Ganz besonders zieht es sie in die Reutlinger Straße, wo ihre Großeltern im Haus Nummer 35 gewohnt hatten: „Anfang der 50er-Jahre war ich da mal als kleines Mädchen. Ich weiß das noch genau. Doch dann sind meine Großeltern gestorben und ich konnte das Haus seither nie mehr von innen sehen. Aber ich weiß noch ganz genau, wie es dort ausgesehen hat. Und den Korb-Puppenwagen, den mir mein Vater bei Heiges gekauft hat, besitze ich noch immer.“ Bei ihrem jüngsten Besuch hat sich Linda Wette ein Herz gefasst und an den Türen geklingelt. „Leider war niemand zuhause, um ihn zu bitten, dass ich einen kurzen Blick ins Hauswerfen darf. Aber vielleicht klappt’s ja beim nächsten Mal. Denn ich komme wieder, und dann will ich mein Glück nochmals versuchen.“

Mit ihren 74 Jahren denkt Linda Wette, die vorzüglich deutsch spricht, noch nicht an den Ruhestand. Drei Tage in der Woche arbeitet sie bei einem Unternehmen im amerikanischen Paramus, das deutsche und österreichische Lebensmittel in die USA importiert. Ihren Job hat sie auch Esslingen zu verdanken. „Ich hatte meine Arbeit verloren, weil die Firma, bei der ich angestellt war, in die Insolvenz gegangen war. Irgendwann habe ich einfach mal bei einer anderen Firma angeklopft und gefragt. Und tatsächlich suchten die gerade jemand. Der Chef hat mich ins Lager geführt, und da standen lauter Lebensmittel von hier: Ritter Sport Schokolade, Bahlsen-Kekse, Tchibo-Kaffee - und Hengstenberg-Essig. Da konnte ich mit meinem Wissen über Hengstenberg glänzen und hatte den Job. Mein Vater hatte mir oft erzählt, wie er als Kind mit dem Leiterwagen dorthin gefahren war und der alte Herr Hengstenberg ihm Essig aus einer großen Kanne abgefüllt hat.“

Geschichten wie diese, die sie von ihrem Vater gehört hat, könnte Linda Wette stundenlang erzählen. „Meine Mutter, die ich genauso geliebt habe wie meinen Vater, hat mir auch viel von Leipzig berichtet. Aber diese Stadt habe ich komischerweise lange nicht so ins Herz geschlossen wie Esslingen.“ „Ich kann mich an dieser Stadt nie sattsehen, und obwohl ich schon oft zu Besuch war, entdecke ich jedes Mal Neues und Überraschendes. Deshalb muss ich immer wieder hierher kommen.“

Verwandtschaft wird gesucht

Bei einem ihrer letzten Besuche wurde sie unverhofft Zeugin eines riesengroßen Spektakels: „Der ganze Rathausplatz war voll mit Menschen, Fernsehkameras und Reporter waren da, aber keiner hat mir erklärt, was da los war. Erst nach meiner Rückkehr in die USA habe ich in unserer Zeitung gelesen, dass Hollywood-Star Katherine Heigl zu Besuch war, um die Stadt ihrer Vorfahren zu besuchen.“ Mit der prominenten Schauspielerin wollte Linda Wette nicht tauschen - nur um eines beneidet sie Katherine Heigl bis heute: „Sie hat es geschafft, ihre Verwandtschaft in Esslingen zu finden und sich mit einigen von ihnen zu treffen. Das wäre auch mein ganz großer Wunsch - in Kontakt mit meinen Angehörigen zu kommen. Vielleicht meldet sich ja der eine oder andere auf meine Zeitungsannonce.“ Einem Familientreffen stünde dann bei Linda Wettes nächstem Besuch in Esslingen nichts mehr im Wege - auch wenn ihr der Heimweg in die USA dann in Zukunft noch schwerer fallen würde. Denn auch wenn sie gern in New Jersey lebt, hat sie ihr Herz an Esslingen verloren. Und sie bekennt: „Beim Abschied hab’ ich jedes Mal Tränen in den Augen.“